Eigentlich bin ich davon ausgegangen, dass ich seit 2015 schon jede Menge Sachen „neu ausgehandelt“ habe, von denen ich bisher davon ausging, dass sie unverbrüchliche Wahrheiten wären. Wie beispielsweise, dass ich Papier brauche, wenn ich in ein fremdes Land einwandern wollte.
Seit letzter Woche weiß ich – es gibt noch jede Menge Dinge, die verhandelbar sind. Wie beispielsweise unsere Demokratie, wie ich sie bisher kannte und gut fand. Beispielsweise, dass Wahlen frei und geheim sind. Aber das ist tatsächlich heute verhandelbar. So möchte beispielsweise Susanne Henning-Wellsow von der LINKE, dass „
Stimmen dokumentiert werden“ und statt dass sie irgendjemand fragt, ob sie schlimmes Fieber hat, fragt die Süddeutsche laut nach, ob geheime Personenwahlen nicht „
ein alter Zopf“ sind. „Das wird man ja wohl noch fragen dürfen“. Nur: So einfach ist es nicht.
Unsere Demokratie, unsere Meinungsfreiheit, unser freies Land wird in hauchdünnen Millimeterscheibchen abgetragen. Und wer sich dagegen wehrt, der „
ist ein Krebsgeschwür“, wie Elmar Brok den Leuten der WerteUnion erklärte, die er bei der Europawahl noch seine eigenen Plakate hat aufhängen lassen. Danke für gar nichts, Elmar. Da passt es dann auch gut ins Bild, dass bei „
Hart aber fair“ zwar über AfD und FDP geredet wurde – aber nicht ein einziger Vertreter der beiden Parteien eingeladen war. Vielleicht sollte sich die Sendung umbenennen? Okay, es war der WDR. Mal wieder.
Worum geht es Konservativen eigentlich? Was ist es denn, wofür sie sich beschimpfen und bedrohen lassen dürfen? Ist es wirklich so ein Sakrileg, von Migranten gültige Papiere, Ehrlichkeit und bestenfalls ein paar Deutschkenntnisse zu erwarten? Ist es ein Verbrechen, den Mietendeckel abzulehnen und seinen Besitz zu schützen? Ist es verdammenswert, Meinungsfreiheit für jeden, und mag seine Meinung noch so doof sein, für wichtig zu halten? Ist es nicht in Ordnung, andere Ansichten als die Regierungspartei zu haben? Oder gegen eine Mehr- oder Minderheitsgesellschaft? Muss ich mich an Eigentum oder Leib und Leben bedrohen lassen, wenn ich weiter einen Diesel-SUV fahren will? Kurz gesagt: Ist das der Stil, wie wir miteinander umgehen wollen? Nichts gegen ein bisschen Polemik, Spott und gegenseitiges Aufziehen – aber wir erleben derzeit eine Art Hetzjagd, deren Opfer jederzeit jeder werden kann, wenn er sich nur „falsch“ ausdrückt.
Es geht Konservativen letztlich um demokratische Fairness: Was ich einer Linken zugestehe, muss ich auch einer AfD zugestehen. Ich muss sie nicht mögen, ich darf beide politisch bekämpfen und mit ihnen streiten – aber ich habe die Finger von ihrem Eigentum und den Leibern ihrer Vertreter zu lassen. Und muss, wenn diese Parteien radikale Schlägertruppen und Vereinigungen unterstützen, diese verbieten und auf der Straße für „klar Schiff“ sorgen. Das Gewaltmonopol liegt beim Staat. Ende der Durchsage. Gewalt gegen Sachen und Menschen ist ein NoGo. Das ist kein „Aktivismus“ oder „Protest“, sondern schlicht Ochlokratie und sollte nicht nur juristisch, sondern auch politisch geächtet sein. Ja, das ist tatsächlich mittlerweile kein Konsens mehr, sondern eine furchtbar konservative Einstellung, gegen die sich linke Parteien und eine öffentliche Presse mit den Fersen im Boden entgegenstemmen. Der Schwarze Block der Antifa will schließlich nur spielen.
Demokratische Spielregeln sollten aber nun einmal für alle Parteien gelten. Dazu sind übrigens auch geheime Wahlen da. Es gibt keine „guten“ oder „schlechten“ Stimmen, es gibt Stimmen. Punkt, Aus, Amen, Basta. Weder ist eine AfD gezwungen, den eigenen Kandidaten zu wählen, noch kann niemand mit letzter Sicherheit sagen, ob nicht zwei AfDler Ramelow und zwei Grüne Kemmerich gewählt haben. Auch das ist theoretisch möglich. Das ist ja das Schöne an geheimen Wahlen: Niemand weiß, wer wen warum gewählt hat. Dass das die Hölle für jemanden ist, der sich selbst zum Wahlsieger beschlossen hatte, ist verständlich. Demokratischer Wettstreit ist aber nun einmal die Hölle. Für die Leute, die vom Bürger gewählt und bezahlt werden und der ihre Arbeit letztlich über den Stimmzettel beurteilt.
Die meisten Konservativen wünschen sich schlicht genau diesen demokratischen Wettstreit der 70er, 80er und 90er Jahre. Auch da waren die Bandagen hart und die Stimmen laut und manchmal sogar schrill. Wenn es aber um eine Krise des ganzen Landes ging, dann haben sich Schmidt, Wehner, Strauß und Kohl zusammengesetzt und miteinander ver- und gehandelt. Siehe die Befreiung der „Landshut“ und die Bekämpfung des RAF-Terrorismus. Den, ich bin leider sicher, einige der Leitmedien heute als „überbordenden Aktivismus“ bezeichnen würden und bei der sich der ein- oder andere Politiker vor die Kameras setzen und unter Applaus des Studio-Publikums fragen würde: „Hätte man den Entführern der Landshut nicht nach erfolglosen Kompromiss-Verhandlungen in die Beine schießen können?“
Ich weiß, das hört sich jetzt nach „Oppa Thilo erzählt vom Krieg gegen die RAF“, nach „früher war mehr Lametta“ an, tatsächlich gab es aber früher mehr Gelassenheit und Fairness und wer meinte, er müsse krumme Dinger drehen, der war parteilich und gesellschaftlich erledigt. Es war ein harter, aber konstruktiver Kampf um die Frage, in welcher Gesellschaft wir leben wollen.
Ja, das ist heute anders. Wenn,
wie in Plauen, der rechtsextreme Mob pseudouniformiert durch die Straßen zieht oder, wie in Berlin, Hamburg und diversen anderen Städten, Linksextreme marodierend ganze Stadtteile terrorisieren, dann ist etwas verloren gegangen, was sich nur unzureichend mit dem Wort „Anstand“ bezeichnen lässt. Aber darum geht es im Kern: Anstand.
Und dieser ist sowohl einer AfD abhandengekommen, die sich nicht schämt, über „Halbneger“ und „Kopftuchmädchen und Messermänner“ (von anderen Entgleisungen mal ganz zu schweigen) zu schwadronieren, als auch den „NaziNazi“-Alarmisten der linken Seite, die Gewalt gegen Andersdenkende mit klammheimlicher Freude billigt oder sogar aktiv fördert, statt sie zu verurteilen. Und sich eine moralische Deutungshoheit herausnimmt, die ihr 30 Jahre nach dem Mauerfall schlicht nicht zusteht.
Ich glaube, es braucht tatsächlich einen „Aufstand der Anständigen“, tatsächlich eine neue Partei, die mit liberal-konservativen Ideen und einer optimistisch-pragmatischen Ausrichtung die ja tatsächlich vorhandenen bürgerlichen Kräfte zusammenfasst. Die Union kann das unter Merkel nicht leisten, die Lindner-FDP will es nicht leisten und die AfD ist zu sehr mit Rechtsextremen und Unanständigen kontaminiert, um vertrauenswürdig zu sein.
Wer entzündet Madame Libertys Fackel?