von Thilo Schneider
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28. November 2024
Baerbock hat einen. Habeck hat auch einen. Und Scholz auch. Und – jetzt müssen Sie sehr stark sein – Alice Weidel auch: Einen Großvater, der – halten Sie sich fest – bei der Wehrmacht war. Oder sogar bei der Waffen-SS. Haben Sie sich erholt? Gut so! Was allerdings bei den einen als „naja, also, ehm, war halt so“ durchläuft, ergibt bei der anderen eine Art raunende Sippenhaft: „Aha, daher ist die also bei der AfD. Weil der Opa ein Nazi war.“ Ich glaube, es ist genau diese moralische Doppelbödigkeit, die die meisten native Germans in ungute Schwingungen versetzt, um es vorsichtig auszudrücken. Aber ich will auf etwas anderes hinaus: Denn derartiges Raunen im Blätterwald ist immer auch eine gute Gelegenheit, sich einmal mit der eigenen Familiengeschichte zu beschäftigen. Ich betreibe seit einigen Jahren interessiert die Genealogie meiner Familie. Fast 2.000 Personen tummeln sich mittlerweile im schneiderschen Stammbaum und ein bisschen macht es mich stolz, wie viele Leute sich seit wann Mühe gegeben haben, damit ich als Thilo Schneider diesen Artikel schreiben kann. Übrigens nicht nur mit mir, sondern mit jedem, der diese Zeilen liest. Also: Nichts besonderes, aber trotzdem spannend, die eigenen Wurzeln zu erkunden. Aller Anfang ist einfach, die meisten Menschen werden sich an Vater und Mutter (oder, in ein paar Jahren, Vater und Vater und Mutter und Mutter und Vater zu Mutter und Mutter zu Vater) erinnern. Dann kommen die Großeltern, die die meisten ebenfalls noch kennen dürften. In meinem Fall sind das vier Personen, die zwischen 1900 und 1920 geboren sind und - ich war bereits mit 15 wach genug, um nachzufragen – schlicht Menschen ihrer Zeit waren. So, wie ich Mensch meiner Zeit bin. Ich erinnere mich an die erbitterten Diskussionen meiner Eltern in den 70ern bezüglich des Abtreibungsparagraphen. Meiner Mutter war dafür, mein Vater eher dagegen. Er war auch gegen den Sexualkundeunterricht, der erteilt werden sollte – bis er die Lehrerin kennenlernte. Da war er plötzlich, zum eifersüchtigen Ärger meiner Mutter, dafür. Mein Vater lebte das für die 70er Jahre typische Leben: Haus bauen, Auto kaufen, Ehefrau arbeitet mit dazu, gemeinsam gabs eine hübsche Doppelhaushälfte mit 600 m² Garten für - mein Vater betonte gelegentlich den irren Preis - 160.000,- DM. Da und so wurde ich groß. Gesellschaften endeten meist in einem Gelage aus „C&C“, aus „Cognac und Cigaretten“, das war eben so und war eben so Usus. Wenn ich meinen Eltern etwas nicht verzeihe, dann sind es diese grässlichen Nickipullis für Kinder, in denen wir alle wie die Idioten ausgesehen haben. Erst recht mit den geschnittenen Ponys, die wir heute als „Problempony“ bezeichnen. Kindheit ist für mich der Geruch von Logema-Plättchen, Bohnerwachs und dem sommerlichen Mief eines überhitzten Ford Taunus 17 M TS und Opel Konsul ohne Sicherheitsgurte auf der Rückbank. Und natürlich wurde im Auto geraucht. Was weiß ich noch? Ein Großvater war im Krieg „unabkömmlich“, als Ingenieur in einer Herdbau-Fabrik plante und überwachte er die Fertigung von Panzertürmen. Hat er sich das ausgesucht? Eher nicht. Eines Tages dürfte sein Chef auf ihn zugekommen sein und verkündet haben, dass die Produktion hübscher gusseisener Herde nun auf die Produktion hübscher gusseisener Panzertürme umgestellt wird. Ist eben so. Der andere war tatsächlich gelernter Schneider und erlebte noch die Geburt seiner ersten Tochter mit, bevor er eingezogen wurde. Der war in Norwegen bei den Besatzungstruppen und sah sein Kind dann drei Jahre lang nicht. Bevor er sich eine derart kräftige Lungenentzündung nebst Nierenerkrankung in irgendeinem dämlichen Fjord zuzog, dass er als Kriegsversehrter ausgemustert wurde. Von ihm ist die Anekdote übermittelt, dass meine Mutter mit ihren drei Jahren schreiend davonlief, als er nach Hause kam. Erkannt hat sie ihn erst, als er seine Schirmmütze aufsetzte – da sa er so wie auf dem Bild aus, das meine Großmutter ihr immer gezeigt hatte, nach dem Motto: Das ist der Papa und der hat Dich sehr lieb, aber der ist im Krieg. Der Mann war chronisch krank und lebte bis in zu seinem relativ frühen Tod in den 70ern bei uns. Geblieben ist mir sein Kriegsfotoalbum und die Geschichten, die er zu erzählen wusste. Da steht er immer nur mit irgendwelchen Kameraden herum, im Biwak, auf Wache und in der Kompanieschneiderei. Kein schrecklicher Krieger oder großartiger Held, einfach nur ein junger Typ, der eben im Feldersatzbataillon sein Ding machte. Gekämpft hat er kaum, er hat einfach nur das Glück im Unglück gehabt, sich neben der Lungenentzündung auch eine chronische Nierenerkrankung zuzuziehen. Toll fand er das sicher nicht – ersparte ihm aber den Gang nach Russland. Mein Großonkel, ein junger Typ Anfang Zwanzig, ein, wenn man dem einzigen hinterlassenen Bild glauben darf, hübsches Kerlchen, kam Ende 1944 auf Heimaturlaub in das Kaff, in das meine Großeltern nolens-volens zwangsevakuiert waren, weil sie ausgebombt waren. Meine Großmutter beschwor ihren Bruder, auf und in dem Kaff unterzutauchen, das Kriegsende war absehbar. Aber er wollte seine Kameraden nicht im Stich lassen. Während der Ardennenoffensive hat es ihn dann erwischt, sein Grab habe ich nahe der luxemburgischen Grenze mal besucht. Er hat gleichzeitig sehr ehrenhaft und sehr saudoof gehandelt. Bezahlt hat er seine Treue – nicht zum „Führer“, sondern zu seinen Kameraden - mit seinem Leben. Ein Held? Sicher nicht. Eher einer, der einfach Pech gehabt hat. Meine Urgroßmutter wiederum – da habe ich bei der entsprechenden Stelle nachgeforscht – litt an Schizophrenie und wurde in Hadamar vergast. Ich war dort, in der Gaskammer. Schauderhaft und herzerweichend und ich hoffe für sie, dass sie derart umnachtet war, dass sie nicht mitbekommen hat, was mit ihr passierte. Erschütternd sind die liebevollen Briefe zu lesen, die ihr mein Urgroßvater in die Klinik geschrieben hat und wie ihn die grässlichen Ärzte belogen haben und mit welcher Kaltblütigkeit sie ihre Patienten zuerst verraten und dann umgebracht haben. Ich bin nicht nah ans Wasser gebaut – aber das hat mir die Beine unter dem Leib weggerissen. Ein anderer Onkel wollte Lehrer werden. Der hat erzählt, dass er sich mit seinen 19 Jahren bei der Waffen-SS verpflichten musste. Keine Ahnung, ob das stimmte oder er ein „150%tiger“ war. Auf jeden Fall dauerte das Spiel nicht lange und gleich beim ersten Einsatz geriet er in amerikanische Kriegsgefangenschaft. Auch hier: Glück im Unglück. Seine Tochter hat witzigerweise einen Amerikaner geheiratet, der in unserem Schtetl stationiert war und folgte ihm nach seiner Dienstzeit nach Texas. Die Begeisterung meines Onkels darüber hielt sich in sichtbaren Grenzen. Jeder lebt sein Leben, so gut er es vermag. Aber ich gönnte es ihm. Mein Vater war bei der Hitlerjugend. Er erzählte, dass seine Eltern da furchtbar dagegen waren, ob aus Angst oder Überzeugung weiß ich nicht. Aber alle seine Freunde waren auch dabei! Er hat sich mit Hilfe der NS-Organisation durchgesetzt, nachdem seine Eltern Besuch bekamen, um „einen Sachverhalt zu klären“. Der war mit seinen 14 Jahren Teilnehmer am berühmten „Patton-Raid“ bei Hammelburg und schlug sich danach 14 Tage alleine bis zu seinem Wohnort durch. Bis er ankam, war seine Stadt in amerikanischen Händen und der Krieg für ihn vorbei. Und er, im doppelten Wortsinne, geheilt. Neue Schuhe zu bekommen, war für den Schneiderlehrling das Hauptproblem, wie ein Anforderungsschreiben seines Lehrherren an die amerikanische Kommandantur beweist, die in seinem Nachlass aufgetaucht ist. Ich denke, alle diese kurzen Anekdoten sind charakteristisch für die meisten von uns, die sich mit ihrer noch ziemlich nahen Herkunft beschäftigen. Waren diese Geschichten für uns noch greifbar, weil wir die handelnden Personen kannten und liebten, wird es „nach hinten raus“ schwieriger. Auf den wenigen Bildern aus dem Anfang des letzten und Ende des vorletzten Jahrhunderts – meist gibt es ein Familiengruppenbild, Photographien waren teuer! – stehen sie da, in bröseligem Schwarz-Weiß. So streng und konzentriert, wie wahrscheinlich auch ihr nicht einfaches Leben war. Die Frauen schauen durch die Bank gescheitelt und sehr freudlos aus, kaum jemand lächelt, sie alle tragen einen Look, wie in Gruselfilmen die Geister ausgestattet sind: Im edlen Sonntagsstaat und schlecht gelaunt. Aber so waren sie sicher nicht. Jeder von meinen Vorfahren hatte irgendeine Freude, irgendeine Passion, jeder dürfte das Glück der ersten Liebe und auf jeden Fall des ersten Kusses gehabt haben. Jeder von denen war einmal jung und voller Hoffnung und Freude auf das, was da dereinst kommen mag. Der eine dürfte sich über sein neues Pferd, der andere darüber gefreut haben, als er das erste Auto oder das erste Telefon oder das erste „Rundfunkempfangsgerät“ bekommen hat. Oder den nagelneuen gusseisernen Herd oder die Wäscheschleuder. Jeder von denen hat persönliche glorreiche Siege und vernichtende Niederlagen erleben dürfen, Glück und Leid. Je weiter ich ins 19te Jahrhundert vorgedrungen bin, desto höher wurde die Zahl der Kinder, desto verzweigter die „Nebenlinien“. Fünf, sechs, acht, zehn Kinder – keine Seltenheit. Nicht alle haben die ersten 20 Lebensjahre überlebt. Es wimmelt von Totgeburten, Krankheiten und Unglückfällen und ich sehe sie alle vor mir, wie ihnen das erste Mal verkündet wird, dass sie Vater werden („hurra“) oder das achte Mal („bitte nicht schon wieder“). Die Stammbäume verzweigen sich immer weiter, decken vergessene Familiengeheimnisse wie Suizide oder seltsame Eheschließungen auf. Meine Vorfahren waren im Ersten Weltkrieg, gingen 1866 vor den Preußen in Deckung, waren 1870/71 dabei, erlebten den Durchzug der „Grande Armee“ und dann der Bayern, er- und überlebten Könige, Kaiser, Gebietsneuordnungen, durchziehende Horden, Pest, Pocken und Kinderlähmung und mussten mit all diesen Dingen zu ihrer Zeit und mit ihren Möglichkeiten umgehen. Sie waren Untertanen des Mainzer Bischoffs, dann Untertanen eines Fürstentums, dann plötzlich Bayern. Steuern zahlen mussten sie überall. Unter jeder Herrschaft. Wer wäre ich, das in der Rückschau beurteilen zu wollen? Es waren ihre „über den Leisten geschlagenen Schuhe“ oder einem Toten abgenommenen Reiterstiefel, in denen sie liefen, nicht meine. Ich sehe sie in den Schlangen stehen, bei der Musterung, bei der Essensausgabe, bei der Registrierung ihrer Ankunft in Amerika und nackt vor dem Eingang zu den „Duschräumen“. Es wimmelt von Helden und von Schurken, von armen Bauern, ärmeren Tagelöhnern und ausgebeuteten Mägden. Mit Sicherheit auch von Tätern und von Opfern. Und einen leibhaftigen Dorfschultheiss und wenigstens eine Nonne kann ich aufbieten. Mein Urgroßvater wird unangenehm überrascht gewesen sein, dass ihm die Franzosen das Kaufhaus in Straßburg 1918 nicht ließen… Mir fielen vor einiger Zeit die „Erinnerungen des Generals Marcellin Marbot“, einem französischen Husaren Napoleons, von etwa 1790 bis 1813 in die Hände, in denen er genüsslich eine Anekdote beschreibt: Als er in meiner Heimatstadt stationiert war, kurz vor dem Russlandfeldzu Napoleons, „pflückte“ er in einem kleinen Kaff, das heute Stadtteil ist, „eine zarte Rose des ortsansässigen Müllers“, exakt so beschreibt er es. Es gab nur eine Mühle und meine Großmutter stammt aus dieser Mühle. Vielleicht also ist jener General, der da „Fisematenten“ machte und ein „Techtelmechtel“ hatte, einer meiner Vorfahren und mir gehört zu einem 100stel ein Schloß in Frankreich. Als Nachfahre des dann geborenen Bastards, den einer meiner Vorfahren danach brav aufgezogen hat. Lege ich sein Portrait von 1815 neben ein Foto meines Neffen von 2024 – dann sind das die gleichen Personen. Witzig. Kleine Dramen im großen Theaterstück der Geschichte, Geschichtchen in der Geschichte. Längst vergessen und sie tun nicht mehr weh. Bis ins Jahr 1583 bin ich vorgestoßen, was bei uns Nicht-Adeligen extrem schwierig und selten ist, da die meisten Kirchenbücher im Dreißigjährigen Krieg den Biwakfeuern der Katholiken und Protestanten und Schweden und anderem herumziehenden Gesocks zum Opfer fielen. Und von oben betrachtet bin auch ich nur ein winziges Rädchen, das soeben diesen Text hier geschrieben hat, der bereits in zehn Jahren vergessen sein wird und, sofern es dann noch Strom und Internet gibt, nur mit viel Glück in 100 Jahren noch auffindbar sein wird. Wer von meinen Nachfahren diesen Text also in 100 Jahren liest: Erhebe Dein Glas auch mich und trag mir bitte nichts nach. Ich habe alles so gut gemacht, wie ich es konnte. So war das eben damals, 2024, auch ich bin nur ein Kind meiner Zeit. Also bitte verurteile mich nicht – auch, wenn ich Dich wahrscheinlich, als geschlechts- und CO2-neutrales Kindendes des Jahres 2124, für einen verwöhntes Blag halte. Ich komme eben aus der Vergangenheit.