Die öffentliche „Diskussion“ um die neue, farbige Vorsitzende der Grünen Jugend, Sarah Lee Heinrich, ist aufgrund ihrer Tweets der Vergangenheit voll entbrannt und
Chaim Noll hat auf der Achse
ja auch schon ein paar passende Worte gefunden. Meine erste Reaktion, als ich von der Ernennung und den Tweets erfuhr, entsprach ebenfalls der des geschätzten Kollegen. Erst mit etwas Nachdenken komme ich doch über Sarah Lee Heinrich zu einem anderen Schluss als dem, sie, platt gesagt, einfach nur für eine asoziale Rotzgöre aus der Gosse mit lauter Klappe zu halten.
Es ist nicht schlimm, in ärmlichen Verhältnissen aufzuwachsen – schlimm ist es, dort verbleiben zu wollen. Oder, dass andere wollen, dass jemand dort verleibt. „In seine Schranken gewiesen wird“.
Die Tweets, die young Sarah-Lee abgesondert hat, sind etwa sechs Jahre alt. Damals war die Dame zarte 14 Lenze jung. Über das, was sie als Jugendliche da in ihrem Block erlebt hat, will ich lieber gar nicht spekulieren. Das Adjektiv „behütet“ ist mit Sicherheit nicht das, das ich verwenden würde.
Was haben Chaim Noll und ich mit 14 veranstaltet? Chaim Noll und ich wuchsen in bürgerlichen Häusern mit intakten Familien auf. Chaim Nolls Vater war der Schriftsteller Dieter Noll, mein Vater harmloser Versicherungsagent. Mit 14 bekam ich wöchentlich Orgelunterricht, spielte gelegentlich Fußball oder schrieb selbst kleine Geschichten. Ich schätze, bei Chaim Noll wird es ähnlich gewesen sein. Wir beide genossen nicht nur Bildung seitens des Elternhauses, wir hatten auch Hilfe bei Schularbeiten und erlebten unsere Eltern als liebevolle, wenngleich strenge und nicht immer einfache Vorbilder. Wir führten wahrscheinlich auch als Teenager hitzige Diskussionen, stellten in Frage, wechselten Standpunkte und so bildete sich mit der Zeit bei uns das, was man bei uns Menschen „Kultur“ nennt. Weder
Dieter Noll
noch Franz Schneider dürften je zu Hause das Wort „Fotze“ gebraucht haben. Auf unseren Schulhöfen in den hübscheren Stadtvierteln hörten wir dieses Wort auch nicht. Chaim Noll und ich hatten schätzungsweise keine Chance, dieses Wort als Kinder überhaupt kennenzulernen.
Schauen wir uns die tweetende Teeniebraut Sarah-Lee Heinrich an:
Die Mutter wollte es gerne bunt, Papi gab Mami bunt und setzte sich zurück nach „Mother Africa“ ab, als er entweder Alimente zahlen sollte oder weil es ihm im Ruhrgebiet zu „weiß“ war, vielleicht wurde er auch abgeschoben, ich habe keine Ahnung. Fakt ist, Papi ist nach Guinea oder sonstwohin, wo der Pfeffer wächst, verschwunden. Mami stand nun da mit einem kleinen Kind, Vater unbekannt verzogen und das mit dem Verziehen musste sie daher allein übernehmen. Arbeiten kann sie deshalb auch nicht, oder auch nicht, weil sie nichts kann oder krank ist oder faul oder alles zusammen. Die Kleinfamilie lebt von HartzIV, das Geld ist knapp, die wöchentliche Tiefkühlpizza bildet das kulinarische Wochenhighlight, während Chaim Noll und ich in diesem Alter wenigstens einmal monatlich schön ins Restaurant mitgingen. Wir erhielten mittags, jede Wette, meistens frisch gekocht. Nicht immer toll, nicht immer schön, aber wir (s)aßen als Familie nebst den dazugehörigen Gesprächen zusammen. Unsere Eltern haben nicht schwer gesoffen oder sich mittels Drogen kleine Urlaube von der Realität gegönnt. Dafür sind sie mit uns in Urlaube gefahren, wann immer dies möglich war und wir haben fremde Länder, Kulturen und Sitten kennengelernt.
Ich wuchs in einer Doppelhaushälfte auf dem Land mit 600 m² Garten auf, von Chaim Noll weiß ich es nicht. Mama Heinrich wächst mit der kleinen Sarah-Lee im Wohnblock im HartzIV-Distrikt auf. Die Treppenhäuser riechen nach Pisse, der Sperrmüll steht auf der Straße und wenigstens einmal die Woche brüllt irgendjemand herum und die Türen fliegen. Ich nehme Wetten an, Klein-Sarah-Lee kam mit dem Schlüssel um den Hals in die Wohnung, wenn sie sich durch die anderen harten Jungs mit und ohne Migrations-Hinter- und Hauptgrund gekämpft hat. Während Chaim Noll und ich feingeistig im gleichen Alter griechische und römische Heldensagen oder Karl May lasen, durfte little Sarah auf dem Handy daddeln oder hatte einen gebrauchten Game-Boy oder spielte bei einem der Nachbarskinder auf der Playstation, statt auf Geige und Klavier.
Wer von uns drei Hübschen hatte es wohl leichter, aufs Gymnasium zu kommen und Abi zu machen (wobei ich gar keines habe)? Was und wer verleiht mir eigentlich das Recht, auf die „Prollbraut“ Sarah-Lee Heinrich herabzusehen und sie für ihre Tweets von vor sechs Jahren zu verachten? Sarah-Lee Heinrich musste kämpfen, seit sie klein war. Um Liebe, Aufmerksamkeit, Akzeptanz, nicht einmal primär wegen ihrer Hautfarbe, sondern wegen ihres sozialen Status´ und Werdegangs. Möglicherweise würde ich auch über „Fotzen und Schwänze schreiben, Du Drecksau“, wenn ich den Werdegang von Frau Heinrich gehabt hätte.
Sie musste sich durchsetzen, hart sein, am besten die Härteste im Block, zwischen dem ganzen anderen unterbelichteten, arbeitsscheuen, nichtsdestotrotz großmäuligen Gesindel aus aller Herren und Untergebenen Ländern sich Respekt verschaffen. Ja verdammt, da klingst Du mit 14 tatsächlich anders als der Nachbarjunge aus der intakten, bürgerlichen Vorstadtfamilie, der Werte und Traditionen quasi im Vorbeigehen gelernt hat. Wie anmaßend und ungerecht sind wir eigentlich, diese junge Frau nach ihren Tweets aus Kindertagen zu be- und verurteilen?
Ich glaube, dass die Kritik an den Kindertweets von Sarah-Lee Heinrich eigentlich in eine ganz andere Richtung zielt: Wäre Sarah-Lee Heinrich Sprecherin der Jugendorganisation der AfD, wäre sie öffentlich medial zerfetzt und zerrissen, gnadenlos geachtundachzigteilt worden, ohne Rück- und Nachfragen. Da sie jedoch Sprecherin der GJ ist, scheinen die Medien hier beide Augen zudrücken zu wollen. Es ist diese Ungleichbehandlung, die so sehr nervt. Der eine verliert seinen Job wegen zweier falsch gesetzter Likes, die andere zieht übelst rassistisch vom Leder und alle so „so what“? Und womit? Mit Recht.
Denn:
Dieses unter derart prekären und prolligen Verhältnissen aufwachsende Mädchen schaffte es tatsächlich aufs Gymnasium, wurde Schülersprecherin und bekam sogar ein Stipendium. Und nicht nur das: Nach ihrem Abitur begann sie ihr Studium, zuerst an der Uni Bonn, dann an der Uni Köln. Sie ist übrigens die erste aus ihrer Familie, die studiert. Diese junge Dame hat, in ihrem Jargon gesagt, mehr Eier in der Hose als Chaim Noll und ich zusammen. Die hat sich hingesetzt, gelernt und gebüffelt, weil sie sich aus dem Dreck um sie herum freischwimmen wollte, sie dürfte kaum oder sogar keinerlei Hilfe dabei gehabt haben, sie musste sich das alles alleine erarbeiten, musste härter und mehr dafür schuften, als Chaim Noll und ich. Ja, wir hatten es leichter und ja, wir sind tatsächlich privilegiert gewesen und sind es noch. Auch, wenn das weder unser Verdienst noch unsere Schuld ist.
Und Frau Heinrich wurde jetzt Sprecherin der Grünen Jugend.
Sarah-Lee Heinrich hat es bis hierher geschafft. Gegen alle Wahrscheinlichkeiten. Wo ihre Historie vielleicht in der Vergangenheit zu Gegenwind führte, hat sie die Chance ergriffen und diese Historie zu Rückenwind gemacht. Bei den Grünen. Wo ihr ihr Geschlecht vielleicht im Weg stand, hier war es förderlich. Wo ihr ihre Hautfarbe vielleicht hinderlich war, wurde sie hier ihr Vorteil.
Wenn ihr überhaupt und wirklich etwas vorzuwerfen ist, dann dies: Sie lebt den Traum von „Karriere durch eigene Anstrengung“ und verleugnet gleichzeitig, dass dieser Traum möglich und in die Realität umsetzbar ist. Sie ist der überzeugende und lebende Beweis, dass es keine Rolle spielt, woher Du kommst, an welchen Gott Du glaubst oder welche Hautfarbe Du hast, wenn Du Dich nur anstrengst und reinkniest. Egal, wie schlecht Deine Voraussetzungen sind. Meinen tief empfundenen Respekt, Sarah-Lee Heinrich. Eigentlich gehörst Du in eine ganz andere Partei. Irgendetwas mit Liberal.