Hat er oder hat er nicht? Nach Gil Ofarims viralem Handyvideo, in dem er behauptete, wegen eines Anhängers mit Davidstern nicht im West In Leipzig einchecken zu dürfen – was tatsächlich klar antisemitisch gewesen wäre – kommen nicht nur erste, sondern mittlerweile zweite und dritte Zweifel auf. Die Geschichte bis hierher:
Gil Ofarim bezichtigt das West In, speziell dort den Mitarbeiter W., ihn wegen seines sichtbar getragenen Davidsterns nicht einchecken zu lassen.
Das West In Leipzig beurlaubt den Mitarbeiter W., die Angestellten des West In „werben“ mit einer - gelinde gesagt – unglücklichen Banderole für die Vielfalt ihres Hauses.
Hunderte Leipziger demonstrieren vor dem West In gegen Antisemitismus.
Das West In kündigt eine interne Untersuchung an, beide Seiten überziehen sich gegenseitig mit Anzeigen
Gil Ofarim ist sich nicht mehr so sicher, den Stern getragen zu haben, behauptet aber jetzt, es ginge „um Größeres“.
Auf Überwachungsvideos des West In und nach Überprüfung durch eine vom West In beauftragte Anwaltskanzlei und die Polizei ist das Schmuckstück nicht zu sehen.
Daher widerspricht das West In der Darstellung von Ofarim und stellt den bis dato freigestellten Mitarbeiter wieder ein.
Gil Ofarim ist sich doch wieder sicher, seinen „Magen David“ um den Hals gehabt zu haben.
Gil Ofarim scheint ein besonderes Zauberschmuckstück zu tragen: Mal ist es da, dann wieder weg, dann geht es „um was Größeres“ (sein Ego?), dann wieder da. Unwillkürlich frage ich mich da als Leser und Autor, ob sich hier ein leidlich bekannter Promi des Privatfernsehens nicht einfach seiner Eitelkeit entsprechend behandelt fühlte und daher „die Antisemitenkarte“ geschickt und gekonnt ausgespielt hat, die ihm jetzt auf die Füße fällt.
Entweder haben wir hier einen saudummen Ein-Sterne-Promi, der einen auf „wichtig“ machte, oder einen saudummen Angestellten eines 5-Sterne-Tempels, der seinem Antisemitismus freien Lauf lies.
Ich schätze, die Wahrheit liegt irgendwo dazwischen, rein hypothetisch könnte ich mir Folgendes vorstellen:
Ofarim kommt an den Counter und beschwert sich, dass andere Gäste vor ihm eingecheckt wurden. Der Angestellte erklärt ihm, dass er die Schlange entzerren wollte und Ofarim sich beruhigen solle. Zornig packt Ofarim seinen Stern aus dem T-Shirt aus und hält ihn dem Mitarbeiter mit den Worten: „Ich bin sehr berühmt und außerdem Jude – wissen Sie, was ich mit Ihnen und ihrem Schuppen mache, wenn das hier jetzt nicht ganz hurtig vorwärts geht?“ unter die Nase. Der reagiert cool und sagt: „Packen Sie den Stern weg, dann checken wir Sie ein. Drohen lasse ich mir nicht.“
In diesem rein hypothetischen Szenario hätten tatsächlich beide mit ihren Aussagen recht und das Ganze wäre zwar ein Zoff zwischen einem hypernervösen Selbstdarsteller und einem lässigen Hotelangestellten – es wäre aber kein antisemitischer Vorfall. Dazu hätte ihn Ofarim erst selbst hingebastelt. Und hier beginnt die eigentliche Tragödie:
Ich habe als einer der ersten Ofarims Video gesehen und ihm zu 100% geglaubt. Die Story war zuerst einmal schlüssig und emotional vorgetragen. Ich war sehr sauer auf das West In, dass es augenscheinlich antisemitische Mitarbeiter beschäftigt (das darf das West In, im Personalfragebogen dürfte wohl auch niemand darüber Auskunft geben), der seinem Antisemitismus mal freie Fahrt und vollen Lauf gegeben hat (das wiederum wäre Geschäftsschädigung durch den Mitarbeiter und würde zurecht seinen sechszackigen Rauswurf bedeuten). Ich konnte mir auch wirklich nicht vorstellen, dass ein leidlich bekannter D-Promi so bescheuert ist und sich einen tatsächlich strafrelevanten Sachverhalt nur ausdenkt und in den sozialen Netzwerken teilt. So doof konnte ganz einfach niemand sein, der Medienerfahrung hat. Und auch, wer keine hat.
Außerdem hat das Narrativ auch so hübsch gepasst, egal ob das W in Herrn W. für „Westermann“, „Weißband“ oder „Walid“ oder „Wladimir“ steht. Leipzig, Sachsen, alles klar…
Heute, knapp vier Wochen nach dem vergeblichen Eincheckversuch, sehe ich einen armwedelnden Ofarim, der wortreich erklärt, was er nun „hatte oder nicht hatte oder doch hatte oder aber, in jedem Fall also, Antisemitismus, aber hallo so irgendwie!“ Ein peinliches Bild.
Die Affäre ist dadurch aber auch zu einer Affäre der Teilnehmenden in den sozialen Medien geworden. Da gibt es die wie mich, die sich stets die Hacken gegen Antisemitismus in den Boden gestemmt haben und Ofarim geglaubt haben. Wir stehen jetzt buchstäblich da wie die Idioten, die sich naiv in die Irre haben führen lassen. Da ärgert mich meine eigene Dummheit. Kein schönes Gefühl, das gebe ich zu. Ich werde (hoffentlich) daraus lernen. Audiatur et altera pars. Immer.
Daneben aber outen sich die wahren Antisemiten, die es plötzlich ja „schon immer gewusst haben“, weil er „eben so ist, der Jud“ und auch das sind überraschend und erschreckend viele. Viel zu viele, die jetzt aus ihren Löchern gekrochen kommen und mit Häme und Schadenfreude über Ofarim und die, die sich mit ihm solidarisierten, herfallen.
Wir sollten deshalb also nichtsdestotrotz nicht so tun, als gäbe es ihn nicht, den deutschen Antisemitismus, als wäre Antisemitismus stets importiert. Für einen Juden macht es per se sowieso keinen Unterschied, ob ihn ein Deutscher oder ein Araber beschimpft und bespuckt. Aber die Frequenz erhöht sich, wenn Antisemitismus zusätzlich ins Land geholt wird. Wenn die Sachlage in diesem einzelnen vorliegenden Fall sich auch wahrscheinlich anders darstellt, als von Ofarim behauptet, so zeigen die Reaktionen auf seine Geschichte mit dem flackernden Stern, dass er im Grunde eben doch recht hat. Das hat aber dann mit seiner Story nichts zu tun, sondern ist lediglich die Folge daraus. Wie man es dreht und wendet: Gil Ofarim hat sich mit seiner vorschnellen und undurchdachten Aktion gesellschaftlich für „Freund und Feind“ erledigt und denen, die tatsächlich Antisemitismus ausgesetzt sind und denen, die mit ihnen solidarisch sind, einen furchtbaren Bärendienst erwiesen. Schade. Aber so sind Menschen(!) eben auch. Ganz unabhängig von ihrer Herkunft, Religion, Sexualität, Hautfarbe oder politischen Einstellung.
Buddhistisch gesehen - hätten jedenfalls so beide recht. Es gibt eine Wirklichkeit und mehrere Wahrheiten.