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Yolocaust

Thilo Schneider • 14. August 2019

Chic im KZ

Wie wäre es wohl, wenn die Großeltern ermordet worden wären und die Enkel des Mörders auf deren Grab herumtanzen. Und dies nicht einmal in böser oder verhöhnender Absicht – nein, einfach aus Ignoranz, Gedankenlosigkeit oder schlichter Dummheit.

So hat sich eine gewisse Chloe L. aus Wisconsin, die sich selbst als „Influencerin“ bezeichnet – das sind überwiegend junge Menschen, die sich im Internet präsentieren und dort mit ihren tollen Produkten gegen Cash anderen jungen Menschen vor der Nase herumwedeln und dazu belangloses Zeug schnattern – lächelnd mit einer Moncler-Mütze, einem Louis-Vuitton-Täschchen und einem Caramel-Frappuccino im Eingangsbereich des KZ Auschwitz in Modeszene gesetzt. Das ganze Bild hat schwer den Hauch von „Yeah, Leute, schaut wo ich bin, chic im Vernichtungslager, voll cool hier. Lauter so Barracken und so Gedenkdinger, weil da irgendwelche Leute mal so irgendwie gestorben sind…“ Sozusagen „modisch bis zur Vergasung“.

Die Kritik, die die junge Frau darauf auf dem Social-Media-Portal Instagram erhielt, konnte sie gar nicht verstehen. Denn immerhin hatte sie doch ihr stylisches Foto mit dem Wort „Auschwitz“ und daneben einem Herzchen-Bildchen untertitelt. Das hieße ja wohl, dass sie sich der Geschichtsträchtigkeit des Ortes bewusst sei, meinte sie… Von derart viel Pietät bis hin zum Merchandising von „I love Auschwitz“-T-Shirts über Kaffeetassen mit dem Konterfei von Adolf Eichmann und Tischuntersetzern mit Bildern von Leichenbergen ist es da nur noch ein kleiner Schritt.

Nun wäre so eine dumme amerikanische Gans keine Meldung wert, wenn sie ein Einzelfall wäre. Ist sie aber nicht. Im Internet finden sich Hunderte von Selfies von Jugendlichen, die lustig auf den Eisenbahnschienen vor dem Haupteingang von Auschwitz balancieren oder fröhlich grinsend über den tollen Schulausflug im Holocaustland zusammenstehen.

Der Satiriker Shahak Shapira hat in seinem Projekt „Yolocaust“ (zusammengesetzt aus dem Jugendwort „Yolo“, einer Abkürzung, die für „You only live once“ steht und eben „caust“) zwölf der geschmacklosesten Bilder zusammengetragen und nicht nur veröffentlicht, sondern die Protagonisten auch in historische Bilder hineinkopiert. So tanzt einer seiner Darsteller nun nicht mehr über die Stelen des Holocaust-Denkmals in Berlin, sondern über die tatsächlichen Leichenberge. Der Schock war immens. Die Urheber der Bilder konnten sich bei Shapira unter der Email-Adresse undouche.me@yolocaust.de melden und um Löschung bitten. Das Wort „Douche“ bedeutet im Englischen so viel wie „Trottel“. Tatsächlich haben sich alle zwölf Ursprungsfotografen gemeldet und sich für ihre Pietätlosigkeit entschuldigt. Deswegen gibt es heute auf „Yolocaust“ auch die entsprechenden Bilder nicht mehr zu sehen. Allerdings hat Shapira nicht nur diese Emails erhalten – jede Menge anderer Mails strotzten vor Beleidigungen und Drohungen. Ihre eigene Dummheit vor die Nase gehalten zu bekommen, hat den Dummen aller Zeiten nicht gefallen.

Zugegeben: Neben dem Denken ist auch das würdevolle Gedenken schwierig. Ob sich nun Jugendliche bei Balanceakten auf Bahngleisen gegenseitig ablichten, eine nicht gerade helle Leuchte wie der Sänger „Kollegah“ sich in seiner Art Liedern mit einem „Körper, definierter als der von Auschwitz-Insassen“ brüstet und „mal wieder ´nen Holocaust macht“ oder sich der baden-württembergische AfD-Abgeordnete und fast-noch-Unzeitgenosse Wolfgang Gedeon darüber schräge Gedanken macht, ob die Stolperstein-Aktion zum Andenken ermordeter Juden abgeschafft werden sollte – es scheint, als ob die früher verbreitete „Es muss jetzt auch mal Schluss sein“-Mentalität vieler Täter-Kinder und -enkel einer „Mir doch egal“ oder „War was?“-Einstellung der Urenkel gewichen ist. Konnten die Lehrpläne der 70er und 80er Jahre gar nicht genug von Holocaust und Drittem Reich bekommen, so wird heute diese Phase der deutschen Geschichte irgendwo zwischen Kaiserreich und Adenauer-Republik kurz angeschnitten und abgehakt. Vielleicht auch, um hier, ganz kultursensibel, niemanden outen zu müssen.

Das Anne-Frank-Museum in Berlin, das zu Anne Frank ungefähr den gleichen Bezug wie zu Golda Meir hat – nämlich gar keinen – oder die diversen Mahnmale und Gedenkstätten wie Auschwitz oder Buchenwald sind tatsächlich heute zu einer Art „ritualisiertem Gedenken“ und Gruseltourismusmagneten herabgesunken. Die Schulklassen fahren eben dort hin, weil sie müssen und das Besichtigen von Gaskammern allemal spannender und entspannender als ein Vormittag mit Mathematik, Englisch und Latein und eine willkommene Abwechslung ist. Was das Ganze mit den Schülern und Jugendlichen von heute zu tun hat, wird überhaupt nicht mehr klar. In einem ehemaligen Konzentrationslager konzentriert sich heute nur noch gelangweilte Ignoranz, gepaart mit einer Prise Todes-Voyeurismus.

Natürlich sieht sich ein nichtjüdischer Schüler ein Todeslager anders als ein jüdischer Schüler an. Der eine hat einen bestenfalls marginalen Bezug zum Thema, für den anderen ist es nach wie vor lebendiger Teil der Familiengeschichte. Ins Gespräch kommen die beiden – allein schon aus Mangel an Quantität von Juden in Deutschland – nicht. Wir können nur dem gedenken, zu dem wir einen Bezug haben. Eine emotionale Bindung zu alten schwarz-weiß-Fotografien von Fremden aufzubauen, dürfte schwer sein, zumal in einem derart schnellen Zeitalter von 3-Minuten -Youtube-Influencer-Clips. Da kann eine ein- bis zweistündige monothematische Führung ohne Werbepause schon sehr anstrengend sein…

Vielleicht braucht es ja tatsächlich eine neue Form von Gedenken. Im krassesten Fall könnte es den gutgelaunten Besuchergrüppchen in Auschwitz möglicherweise nichts schaden, von brüllenden Uniformierten angegangen zu werden, aufgefordert zu werden, ihre Kleidung abzulegen und dann nackt zu den einzelnen Barracken zu rennen oder drei Stunden „zum Appell“ reglos da zu stehen. Mit einer derartigen Erfahrung würde aus einer „Gedenkstätte“, die offenkundig niemand mehr ernst nimmt, eine „Experience“, die sehr ernst genommen würde. Allerdings dürften da die Rechtsanwälte der „lieben Kleinen“ und ihrer Eltern ein gehöriges Wörtchen mitreden wollen. Eigentlich schade.

Es ist eben nur erstaunlich, wie eine Generation, die für sich in Anspruch nimmt, besonders sensibel und einfühlsam zu sein und deswegen auch keinen Widerspruch ertragen kann, so völlig empathie- und respektlos durch einen Ort wie Ausschwitz latscht, womöglich noch mit Kopfhörer im Ohr und in die Handy-Kamera grinsend. Die gleiche Generation, die sich so ganz furchtbare Sorgen um ihre Zukunft macht, dass sie das Lernen an Freitagen komplett eingestellt hat, interessiert sich, wenn schon nicht für das, was einmal war, nicht den Hauch für die Gefühle der Menschen, auf deren Eltern und Geschwistergräbern sie ihre läppischen und lächerlichen Fotos machen. Und weil sie nicht „hören“ wollen, sind sie dazu verdammt, erneut zu „fühlen“. Aus der ein- oder anderen radikalen Ecke.

Es gab einmal eine Zeit, da gingen die Überlebenden der Konzentrationslager an die Schulen und berichteten über ihre Erlebnisse. Das war die Zeit, als diese Überlebenden auch noch angstfrei mit einer Kippa durch Berlin gehen konnten. Diese Zeiten sind vorbei. Jemand, der Auschwitz als Fünfjähriger überlebt hat, ist heute 80 Jahre alt und nur ganz selten noch in der Lage, seine Stimme zu erheben. Und er schaut heute in leere, desinteressierte Gesichter. Die Urenkel der Täter haben den Bezug zur eigenen Volks- oder wenigstens Familiengeschichte verloren. Und die eingewanderten Gleichaltrigen haben zum Thema Holocaust sowieso eine ganz andere Haltung, da er für diese zur „Behandlung der Palästinenser durch Israel“ umgedeutet wurde. Ein Kapitel, das im Geschichtsbuch kurz vor der großen Pause abgehakt wird. In Sonntagsreden wird sich der ein- oder andere deutsche Politiker natürlich immer noch auf den Holocaust beziehen – und dabei seelenruhig zu sehen, wie die heute in Europa lebenden Juden immer weiter erneut an den gesellschaftlichen Rand gedrängt werden.

So schmerzlich dies für den ein- oder anderen Juden sein mag: Die Vernichtung seiner Familie, der Menschen, die er liebte oder aus Erzählungen kannte – sie wird langsam, aber sicher, Teil der Geschichte.

Ob sie tatsächlich Teil einer kollektiven nichtjüdischen Erinnerung werden wird, bleibt noch offen. Die Chancen dafür stehen nicht besonders gut.


von Thilo Schneider 28. November 2024
Baerbock hat einen. Habeck hat auch einen. Und Scholz auch. Und – jetzt müssen Sie sehr stark sein – Alice Weidel auch: Einen Großvater, der – halten Sie sich fest – bei der Wehrmacht war. Oder sogar bei der Waffen-SS. Haben Sie sich erholt? Gut so! Was allerdings bei den einen als „naja, also, ehm, war halt so“ durchläuft, ergibt bei der anderen eine Art raunende Sippenhaft: „Aha, daher ist die also bei der AfD. Weil der Opa ein Nazi war.“ Ich glaube, es ist genau diese moralische Doppelbödigkeit, die die meisten native Germans in ungute Schwingungen versetzt, um es vorsichtig auszudrücken. Aber ich will auf etwas anderes hinaus: Denn derartiges Raunen im Blätterwald ist immer auch eine gute Gelegenheit, sich einmal mit der eigenen Familiengeschichte zu beschäftigen. Ich betreibe seit einigen Jahren interessiert die Genealogie meiner Familie. Fast 2.000 Personen tummeln sich mittlerweile im schneiderschen Stammbaum und ein bisschen macht es mich stolz, wie viele Leute sich seit wann Mühe gegeben haben, damit ich als Thilo Schneider diesen Artikel schreiben kann. Übrigens nicht nur mit mir, sondern mit jedem, der diese Zeilen liest. Also: Nichts besonderes, aber trotzdem spannend, die eigenen Wurzeln zu erkunden. Aller Anfang ist einfach, die meisten Menschen werden sich an Vater und Mutter (oder, in ein paar Jahren, Vater und Vater und Mutter und Mutter und Vater zu Mutter und Mutter zu Vater) erinnern. Dann kommen die Großeltern, die die meisten ebenfalls noch kennen dürften. In meinem Fall sind das vier Personen, die zwischen 1900 und 1920 geboren sind und - ich war bereits mit 15 wach genug, um nachzufragen – schlicht Menschen ihrer Zeit waren. So, wie ich Mensch meiner Zeit bin. Ich erinnere mich an die erbitterten Diskussionen meiner Eltern in den 70ern bezüglich des Abtreibungsparagraphen. Meiner Mutter war dafür, mein Vater eher dagegen. Er war auch gegen den Sexualkundeunterricht, der erteilt werden sollte – bis er die Lehrerin kennenlernte. Da war er plötzlich, zum eifersüchtigen Ärger meiner Mutter, dafür. Mein Vater lebte das für die 70er Jahre typische Leben: Haus bauen, Auto kaufen, Ehefrau arbeitet mit dazu, gemeinsam gabs eine hübsche Doppelhaushälfte mit 600 m² Garten für - mein Vater betonte gelegentlich den irren Preis - 160.000,- DM. Da und so wurde ich groß. Gesellschaften endeten meist in einem Gelage aus „C&C“, aus „Cognac und Cigaretten“, das war eben so und war eben so Usus. Wenn ich meinen Eltern etwas nicht verzeihe, dann sind es diese grässlichen Nickipullis für Kinder, in denen wir alle wie die Idioten ausgesehen haben. Erst recht mit den geschnittenen Ponys, die wir heute als „Problempony“ bezeichnen. Kindheit ist für mich der Geruch von Logema-Plättchen, Bohnerwachs und dem sommerlichen Mief eines überhitzten Ford Taunus 17 M TS und Opel Konsul ohne Sicherheitsgurte auf der Rückbank. Und natürlich wurde im Auto geraucht. Was weiß ich noch? Ein Großvater war im Krieg „unabkömmlich“, als Ingenieur in einer Herdbau-Fabrik plante und überwachte er die Fertigung von Panzertürmen. Hat er sich das ausgesucht? Eher nicht. Eines Tages dürfte sein Chef auf ihn zugekommen sein und verkündet haben, dass die Produktion hübscher gusseisener Herde nun auf die Produktion hübscher gusseisener Panzertürme umgestellt wird. Ist eben so. Der andere war tatsächlich gelernter Schneider und erlebte noch die Geburt seiner ersten Tochter mit, bevor er eingezogen wurde. Der war in Norwegen bei den Besatzungstruppen und sah sein Kind dann drei Jahre lang nicht. Bevor er sich eine derart kräftige Lungenentzündung nebst Nierenerkrankung in irgendeinem dämlichen Fjord zuzog, dass er als Kriegsversehrter ausgemustert wurde. Von ihm ist die Anekdote übermittelt, dass meine Mutter mit ihren drei Jahren schreiend davonlief, als er nach Hause kam. Erkannt hat sie ihn erst, als er seine Schirmmütze aufsetzte – da sa er so wie auf dem Bild aus, das meine Großmutter ihr immer gezeigt hatte, nach dem Motto: Das ist der Papa und der hat Dich sehr lieb, aber der ist im Krieg. Der Mann war chronisch krank und lebte bis in zu seinem relativ frühen Tod in den 70ern bei uns. Geblieben ist mir sein Kriegsfotoalbum und die Geschichten, die er zu erzählen wusste. Da steht er immer nur mit irgendwelchen Kameraden herum, im Biwak, auf Wache und in der Kompanieschneiderei. Kein schrecklicher Krieger oder großartiger Held, einfach nur ein junger Typ, der eben im Feldersatzbataillon sein Ding machte. Gekämpft hat er kaum, er hat einfach nur das Glück im Unglück gehabt, sich neben der Lungenentzündung auch eine chronische Nierenerkrankung zuzuziehen. Toll fand er das sicher nicht – ersparte ihm aber den Gang nach Russland. Mein Großonkel, ein junger Typ Anfang Zwanzig, ein, wenn man dem einzigen hinterlassenen Bild glauben darf, hübsches Kerlchen, kam Ende 1944 auf Heimaturlaub in das Kaff, in das meine Großeltern nolens-volens zwangsevakuiert waren, weil sie ausgebombt waren. Meine Großmutter beschwor ihren Bruder, auf und in dem Kaff unterzutauchen, das Kriegsende war absehbar. Aber er wollte seine Kameraden nicht im Stich lassen. Während der Ardennenoffensive hat es ihn dann erwischt, sein Grab habe ich nahe der luxemburgischen Grenze mal besucht. Er hat gleichzeitig sehr ehrenhaft und sehr saudoof gehandelt. Bezahlt hat er seine Treue – nicht zum „Führer“, sondern zu seinen Kameraden - mit seinem Leben. Ein Held? Sicher nicht. Eher einer, der einfach Pech gehabt hat. Meine Urgroßmutter wiederum – da habe ich bei der entsprechenden Stelle nachgeforscht – litt an Schizophrenie und wurde in Hadamar vergast. Ich war dort, in der Gaskammer. Schauderhaft und herzerweichend und ich hoffe für sie, dass sie derart umnachtet war, dass sie nicht mitbekommen hat, was mit ihr passierte. Erschütternd sind die liebevollen Briefe zu lesen, die ihr mein Urgroßvater in die Klinik geschrieben hat und wie ihn die grässlichen Ärzte belogen haben und mit welcher Kaltblütigkeit sie ihre Patienten zuerst verraten und dann umgebracht haben. Ich bin nicht nah ans Wasser gebaut – aber das hat mir die Beine unter dem Leib weggerissen. Ein anderer Onkel wollte Lehrer werden. Der hat erzählt, dass er sich mit seinen 19 Jahren bei der Waffen-SS verpflichten musste. Keine Ahnung, ob das stimmte oder er ein „150%tiger“ war. Auf jeden Fall dauerte das Spiel nicht lange und gleich beim ersten Einsatz geriet er in amerikanische Kriegsgefangenschaft. Auch hier: Glück im Unglück. Seine Tochter hat witzigerweise einen Amerikaner geheiratet, der in unserem Schtetl stationiert war und folgte ihm nach seiner Dienstzeit nach Texas. Die Begeisterung meines Onkels darüber hielt sich in sichtbaren Grenzen. Jeder lebt sein Leben, so gut er es vermag. Aber ich gönnte es ihm. Mein Vater war bei der Hitlerjugend. Er erzählte, dass seine Eltern da furchtbar dagegen waren, ob aus Angst oder Überzeugung weiß ich nicht. Aber alle seine Freunde waren auch dabei! Er hat sich mit Hilfe der NS-Organisation durchgesetzt, nachdem seine Eltern Besuch bekamen, um „einen Sachverhalt zu klären“. Der war mit seinen 14 Jahren Teilnehmer am berühmten „Patton-Raid“ bei Hammelburg und schlug sich danach 14 Tage alleine bis zu seinem Wohnort durch. Bis er ankam, war seine Stadt in amerikanischen Händen und der Krieg für ihn vorbei. Und er, im doppelten Wortsinne, geheilt. Neue Schuhe zu bekommen, war für den Schneiderlehrling das Hauptproblem, wie ein Anforderungsschreiben seines Lehrherren an die amerikanische Kommandantur beweist, die in seinem Nachlass aufgetaucht ist. Ich denke, alle diese kurzen Anekdoten sind charakteristisch für die meisten von uns, die sich mit ihrer noch ziemlich nahen Herkunft beschäftigen. Waren diese Geschichten für uns noch greifbar, weil wir die handelnden Personen kannten und liebten, wird es „nach hinten raus“ schwieriger. Auf den wenigen Bildern aus dem Anfang des letzten und Ende des vorletzten Jahrhunderts – meist gibt es ein Familiengruppenbild, Photographien waren teuer! – stehen sie da, in bröseligem Schwarz-Weiß. So streng und konzentriert, wie wahrscheinlich auch ihr nicht einfaches Leben war. Die Frauen schauen durch die Bank gescheitelt und sehr freudlos aus, kaum jemand lächelt, sie alle tragen einen Look, wie in Gruselfilmen die Geister ausgestattet sind: Im edlen Sonntagsstaat und schlecht gelaunt. Aber so waren sie sicher nicht. Jeder von meinen Vorfahren hatte irgendeine Freude, irgendeine Passion, jeder dürfte das Glück der ersten Liebe und auf jeden Fall des ersten Kusses gehabt haben. Jeder von denen war einmal jung und voller Hoffnung und Freude auf das, was da dereinst kommen mag. Der eine dürfte sich über sein neues Pferd, der andere darüber gefreut haben, als er das erste Auto oder das erste Telefon oder das erste „Rundfunkempfangsgerät“ bekommen hat. Oder den nagelneuen gusseisernen Herd oder die Wäscheschleuder. Jeder von denen hat persönliche glorreiche Siege und vernichtende Niederlagen erleben dürfen, Glück und Leid. Je weiter ich ins 19te Jahrhundert vorgedrungen bin, desto höher wurde die Zahl der Kinder, desto verzweigter die „Nebenlinien“. Fünf, sechs, acht, zehn Kinder – keine Seltenheit. Nicht alle haben die ersten 20 Lebensjahre überlebt. Es wimmelt von Totgeburten, Krankheiten und Unglückfällen und ich sehe sie alle vor mir, wie ihnen das erste Mal verkündet wird, dass sie Vater werden („hurra“) oder das achte Mal („bitte nicht schon wieder“). Die Stammbäume verzweigen sich immer weiter, decken vergessene Familiengeheimnisse wie Suizide oder seltsame Eheschließungen auf. Meine Vorfahren waren im Ersten Weltkrieg, gingen 1866 vor den Preußen in Deckung, waren 1870/71 dabei, erlebten den Durchzug der „Grande Armee“ und dann der Bayern, er- und überlebten Könige, Kaiser, Gebietsneuordnungen, durchziehende Horden, Pest, Pocken und Kinderlähmung und mussten mit all diesen Dingen zu ihrer Zeit und mit ihren Möglichkeiten umgehen. Sie waren Untertanen des Mainzer Bischoffs, dann Untertanen eines Fürstentums, dann plötzlich Bayern. Steuern zahlen mussten sie überall. Unter jeder Herrschaft. Wer wäre ich, das in der Rückschau beurteilen zu wollen? Es waren ihre „über den Leisten geschlagenen Schuhe“ oder einem Toten abgenommenen Reiterstiefel, in denen sie liefen, nicht meine. Ich sehe sie in den Schlangen stehen, bei der Musterung, bei der Essensausgabe, bei der Registrierung ihrer Ankunft in Amerika und nackt vor dem Eingang zu den „Duschräumen“. Es wimmelt von Helden und von Schurken, von armen Bauern, ärmeren Tagelöhnern und ausgebeuteten Mägden. Mit Sicherheit auch von Tätern und von Opfern. Und einen leibhaftigen Dorfschultheiss und wenigstens eine Nonne kann ich aufbieten. Mein Urgroßvater wird unangenehm überrascht gewesen sein, dass ihm die Franzosen das Kaufhaus in Straßburg 1918 nicht ließen… Mir fielen vor einiger Zeit die „Erinnerungen des Generals Marcellin Marbot“, einem französischen Husaren Napoleons, von etwa 1790 bis 1813 in die Hände, in denen er genüsslich eine Anekdote beschreibt: Als er in meiner Heimatstadt stationiert war, kurz vor dem Russlandfeldzu Napoleons, „pflückte“ er in einem kleinen Kaff, das heute Stadtteil ist, „eine zarte Rose des ortsansässigen Müllers“, exakt so beschreibt er es. Es gab nur eine Mühle und meine Großmutter stammt aus dieser Mühle. Vielleicht also ist jener General, der da „Fisematenten“ machte und ein „Techtelmechtel“ hatte, einer meiner Vorfahren und mir gehört zu einem 100stel ein Schloß in Frankreich. Als Nachfahre des dann geborenen Bastards, den einer meiner Vorfahren danach brav aufgezogen hat. Lege ich sein Portrait von 1815 neben ein Foto meines Neffen von 2024 – dann sind das die gleichen Personen. Witzig. Kleine Dramen im großen Theaterstück der Geschichte, Geschichtchen in der Geschichte. Längst vergessen und sie tun nicht mehr weh. Bis ins Jahr 1583 bin ich vorgestoßen, was bei uns Nicht-Adeligen extrem schwierig und selten ist, da die meisten Kirchenbücher im Dreißigjährigen Krieg den Biwakfeuern der Katholiken und Protestanten und Schweden und anderem herumziehenden Gesocks zum Opfer fielen. Und von oben betrachtet bin auch ich nur ein winziges Rädchen, das soeben diesen Text hier geschrieben hat, der bereits in zehn Jahren vergessen sein wird und, sofern es dann noch Strom und Internet gibt, nur mit viel Glück in 100 Jahren noch auffindbar sein wird. Wer von meinen Nachfahren diesen Text also in 100 Jahren liest: Erhebe Dein Glas auch mich und trag mir bitte nichts nach. Ich habe alles so gut gemacht, wie ich es konnte. So war das eben damals, 2024, auch ich bin nur ein Kind meiner Zeit. Also bitte verurteile mich nicht – auch, wenn ich Dich wahrscheinlich, als geschlechts- und CO2-neutrales Kindendes des Jahres 2124, für einen verwöhntes Blag halte. Ich komme eben aus der Vergangenheit.
von Thilo Schneider 12. Januar 2024
„Guten Abend, liebe Zuschauer! Zu unserem heutigen Thema „Wann ist man ein Nazi“ habe ich heute einen absoluten Experten auf diesem Gebiet eingeladen: Werner Strößenbrunner!“ (Applaus, der Experte im grauen Anzug mit einem schwarz-weiß-roten Ansteckerchen betritt die Bühne) „Guten Abend, Herr Strößenbrunner…“ „Obersturmbannführer Strößenbrunner bitte. Aber nennen Sie mich einfach Obersturmbannführer.“ „Danke, Herr Obersturmbannführer. Schön, dass Sie heute unter Gast sind.“ „Ja gerne und ein herzliches Heil! Das wird man ja wohl noch sagen dürfen!“ „Herr Obersturmbannführer, ich darf Sie unserem Publikum kurz vorstellen: Vorstrafe wegen des Schmierens von Hakenkreuzen auf Synagogen, gewalttätiger Übergriff auf den Wirt eines israelischen Restaurants, Vorsitzender des Vereins „Blut und Boden“, Vorsitzender der Jugendorganisation „Reichskriegsflagge“ und Verfasser des Buchs „Vorschläge zur vorläufigen Erledigung der Remigration“. Herr Obersturmbannführer, würden Sie sagen, Sie sind ein Rechtsextremist?“ „Ach wissen Sie, was heißt denn Rechtsextremist? Heutzutage wird man viel zu schnell von den öffentlich-rechtlichen, von Soros und Rothschild finanzierten Systemmedien in die rechte Ecke geschoben. Ich würde mich als konservativen Patrioten bezeichnen.“ „Naja, das Schmieren von Hakenkreuzen ist kein Kavaliersdelikt…“ „Da war ich 17 Jahre alt. Eine bedauerliche Jugendsünde. Ich weiß gar nicht mehr genau, wie das war. Ich war da in der Ausbildung zum Landschaftsmaler, das war damals so, und sollte Farbe von A nach B bringen und da war diese Synagoge und ich stand so da und plötzlich waren da mehrere Hakenkreuze drauf. Ich habe bis heute keine Ahnung, wie das passieren konnte und es tut mir auch leid…“ „Die Hakenkreuze tun Ihnen leid?“ „Nein, es tut mir leid, dass ich nicht mehr Farbe dabeihatte. Ich wollte neue holen, aber da waren die Schergen der linksunterwanderten BeErDe bereits da und haben mich verhaftet. Obwohl ich gar nichts dazu konnte.“ „…und die Körperverletzung…?“ „Ach, ganz normale Wirtshausschlägerei, wie sie bei jedem Dorffest stattfindet…“ „…das war keine gezielte Attacke auf den jüdischen Besitzer?“ (seufzt) „…er wollte uns hindern, unsere Brandsätze zu zünden. Was hätten Sie denn in meiner Situation getan? Natürlich habe ich ihm auf die Menora gegeben, das war aber mehr so ein Reflex, so aus der Drehung heraus. Das wurde damals von der ostküstenfinanzierten Lokalpresse schrecklich aufgebauscht…“ „Sie müssen aber schon zugeben, dass das ein wenig den Eindruck erweckt, als hätten Sie etwas gegen Juden…“ „Was? Nein! Ich habe gar nichts gegen Juden, da sind ja schon die ursprünglich von den Nazis verschärften Waffengesetze außen vor!“ „Würden Sie, Herr Obersturmbannführer, sagen, dass Sie Antisemit sind?“ „Nur, weil ich keine Juden mag? Das wird ja wohl noch erlaubt sein!“ „Aber es sind ja nicht nur Juden, um die es Ihnen geht?“ "Ich habe ein generelles Problem mit Volk, das nicht hierhergehört! Und nicht nur ich! Sehen Sie sich doch um! Die ganzen Schleiereulen, die Kopftuchstaffeln, die stark pigmentierten Menschen, das ist doch nicht mehr schön? Da muss man doch etwas tun! Gegen diese Umvolkung muss sich doch ein rassisch gesundes Volk bis zur letzten Patrone mit fanatischem Widerstand durchsetzen!“ „Das ist ein gutes Stichwort! In Ihrem Buch zur Remigration schlagen Sie beispielsweise vor, dass Bürger mit deutschem Pass, deren Ahnenreihe nicht wenigstens vier Generationen zurückreicht, die Staatsbürgerschaft entzogen werden soll, wenn sie einen zweiten Pass haben.“ „Ja, da muss man sich eben mal entscheiden, ob man deutsche Sozialleistungen oder türkischen Wehrdienst und Erben genießen will. Sie haben ja auch keine zwei Frauen, sondern müssen sich für eine entscheiden. Wenn Sie jetzt nicht gerade aus dem Nahen Osten kommen.“ „Wäre das aber nicht ein klarer Verstoß gegen das Grundgesetz?“ „Ach, das kann man mit 2/3-Mehrheit ändern, da sehe ich jetzt kein so großes Problem.“ „Außerdem schreiben Sie, dass Sie straffällig gewordene Bürger entweder nach Möglichkeit abschieben oder zu körperlicher Arbeit verpflichten wollen!“ „Ja, ich halte das für eine gute Lösung! Wir kaufen den Marokkanern, Tunesiern oder Libyern ein Gelände in der Wüste ab und da packen wir das ganze Kroppzeug hin. Da können sie dann den ganzen Tag Sandsäcke füllen, was wiederum den Opfern in unseren Hochwassergebieten zugutekäme.“ „Auch das wäre aber nicht nur ein Verfassungsbruch, sondern sogar ein ethischer Dammbruch. Obersturmbannführer, klare Frage, klare Auskunft: Sind Sie für ethnische Säuberungen in Deutschland?“ „Ach, „ethnische Säuberungen“, das ist auch nur wieder so eine Hohlphrase aus der linken Ecke, um patriotische Deutsche zu framen und zu verunglimpfen. Ich will hier einfach nicht so viele Westasiaten haben. Ein paar sind ja in Ordnung und machen im Niedriglohnsektor einen ganz guten Job, einer muss ja das Essen an den Tisch bringen und Opa mal im Pflegeheim umdrehen, aber das heißt doch bitte nicht, dass hier gleich eine Umvolkung stattfinden muss…“ „Auch das war aber jetzt bereits rassistisch!“ „Ach, was heißt denn „rassistisch“? Ich sag doch nur, wie es ist und wie es die Mehrzahl der Bevölkerung sieht!“ „Glauben Sie, die Mehrheit sieht das so?“ „Wenn wir erst einmal die Mainstream-Medien übernommen haben, dann werden die das so sehen, mein Wort darauf!“ „Sie planen also so eine Art „Machtergreifung“? „Auch wieder so ein Wort aus der linksradikalen Mottenkiste. Wir reden davon, wie wir die politischen Verhältnisse in Deutschland im Sinne des deutschen Volkes neu ordnen können.“ „Ist es korrekt, dass Sie in Ihrer Funktion auch Gespräche mit den Spitzen der AfD führen?“ „Das sind nur private Gespräche, ganz locker und ohne jeden Hintergrund, man kennt sich doch, da sehe ich jetzt kein Problem. Die denken ja im Grunde wie wir, trauen sich nur nicht, das laut zu sagen, aber man wird ja wohl noch auf ein Bier gehen dürfen! Das wird alles viel zu hoch aufgehenkt.“ „Herr Obersturmbannführer, was wäre denn für jemanden wie Sie ein Nazi?“ „Das wäre jemand, der zwischen 1890 und 1930 geboren ist und Mitglied bei der NSDAP war. Das wäre ein Nazi.“ „War Hitler ein Nazi?“ „Ich glaube nicht, dass man das so pauschal sagen kann, er war zwar Mitglied der Partei, aber er hat ja auch die Autobahnen gebaut, die Kirchensteuer eingeführt und die Schreibschrift reformiert, das darf man nicht vergessen!“ „…und was wäre für Sie ein Rechtsextremist?“ „Das wäre jemand, der Leute in Gaskammern schicken oder vernichten will und dazu auch noch Nachbarländer überfällt. Das ist ja nicht das, was wir wollen! Aufgrund der Demographie brauchen wir kein neues Land im Osten. Da müssen wir erst einmal hier wieder auffüllen.“ „Herr Obersturmbannführer, wir danken Ihnen für dieses Gespräch. Guten Abend.“ „Heil!“
Deutende Punkerin. Bild von Wolfgang Eckert auf Pixabay.
von Thilo Schneider 15. Juli 2023
Ich wurde als Hetzer, Rechtspopulist und Rassist bezeichnet. Wenigstens ein Punkt stimmt.
Bild eines Gitarristen von Pexels auf Pixabay
von Thilo Schneider 25. Juni 2023
Kleinkünstler sollten besser links sein - wenn sie Auftritte mit Freibier haben wollen. Und sie sollten einen albernen Hut oder Pferdeschwanz haben! Und im Leben den Rettungsring daneben gegriffen haben.
Polizeikontrolle, mit Spielzeugautos nachgestellt
von Thilo Schneider 30. Mai 2023
Eine Polizeidozentin, eine Polizeikontrolle, ein "nicht so gemeinter Tweet", ein Drama in einem Akt.
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