Ich persönlich betrachte mich ja als ganz normalen Menschen. Also, so als Durchschnitt. Obwohl ich, wie man verharmlosend sagen würde, „etwas moppelig“ bin. Ich habe knapp 100 Kilo. Also eigentlich würde ich über mich sagen, ich bin fett. Ich esse gerne, reichlich und meistens, aber nicht immer, gut. Wäre ich eine Packung Chips oder Salzstängelchen, wäre ich nicht sehr gerne alleine mit mir in einem Raum. Dafür trinke ich so gut wie keinen Alkohol, ich kriege von dem Kram Sodbrennen. Zumindest bei Weißwein. Aber wer trinkt den schon. So etwas schenkt man weiter an Leute, die davon auch Sodbrennen bekommen. Aber ansonsten bin ich eher Durchschnitt.
„Durchschnitt“ meine ich dabei nicht negativ. Ich bin so, wie andere Menschen auch und „wenn Ihr mich kitzelt, dann blute ich“ oder so ähnlich. Mir fallen, genau wie anderen Menschen, körperliche Merkmale nun einmal auf. Neulich beispielsweise waren wir mit Silke verabredet, weil Silke eine neue Freundin hat, die sie uns gerne würde vorstellen wollen können dürfen. Sie sang ein Loblied auf ihre Holdigkeit, ihren Esprit, ihren Charme, ihre Intelligenz, ihren Esprit, ihren Witz und ihren Humor. Und weil der Schatz und ich gerne neue Leute kennenlernen, erst recht, wenn sie die neuen Leute unserer alten Freundin sind, verabreden wir uns zum Vorstellungsgespräch. Und dann sitzen wir, ausnahmsweise sogar einmal vor dem eigentlichen Termin, im „Chez Louis“, der in Wirklichkeit Bernd Feinbein heißt und erwarten gespannt Silke und ihre neue Partnerin. In unserem Alter hat das Vorstellen eines neuen Partners immer so etwas wie „erster Besuch bei den Eltern“. Man ist sich unsicher, weiß nicht, wer da zur Türe hereinkommt und möchte einen guten Eindruck machen. Es dauert auch nicht lange und Silke kommt mit einem winterlichen Atemwölkchen und Dorothee zur Türe herein und mich trifft fast der Schlag.
Am Kinn von Dorothee prangt ein riesiger Pickel.
Er sitzt unten links, unter dem linken Mundwinkel, etwa einen halben Zentimeter über dem Kinn. Ein wahres Prachtstück von einem Pickel. Ein großer roter kreisrunder Hügel, dessen Gipfel schneebedeckt ist. Wie ein sibirischer Vulkan vor dem Ausbruch. Nur mit umgekehrten Farben. In meiner Wahrnehmung leuchtet über dem Berg ein Schild in blinkender Neon-Schrift: „Drück mich aus! Drück mich aus!“
Dorothee ist total nett, lächelt, gibt dem Schatz und mir artig die Hand, stellt sich vor und ich brummele irgendetwas. Ich kann den Blick nicht von ihr lassen. Vielmehr von ihrem Kinn. Silke erzählt begeistert, wie sie Dorothees Pickel kennengelernt hat, jahaa, und ich starre nur auf diese eine Stelle in Dorothees Gesicht. Ich meine, Dorothee hat doch sicher einen Spiegel zu Hause, die Dinger wachsen ja nicht innerhalb von 10 Minuten, das dauert ja, so etwas sieht man ja im wahrsten Sinne des Wortes kommen. Erst recht so ein Prachtstück. Der wiegt ja auch was. Ich meine, wenn ich schon nicht beherzt an dem Teil herumdrücke, dann nehme ich doch einen Abdeckstift, „natürliches Aussehen“ hin oder her. Schlimmstenfalls kann man da doch ein Pflaster drüberkleben oder einen Helm mit einer Kinnsicherung tragen. Oder einen Schal. Oder eine Gasmaske. Es ist ja Winter! Sieht dann doch keiner.
Dorothee erzählt, was sie beruflich macht, sehr interessant, jaja, aber ich kann nicht anders. Der Pickel fasziniert mich. Es wäre natürlich höchst übergriffig, würde ich über den Tisch greifen und mir den Teufelskerl einfach packen. Ich bin Brillenträger, ich könnte das gefahrlos tun, ohne mir ein Auge auszuschießen. Es wäre ein kurzer, heftiger Griff, Dorothee könnte gar nicht so schnell weg, wie ich das Sauvieh geknackt hätte und ich hätte meine seelische Ruhe. Aber da geht ja nicht. So etwas macht man ja nicht. Da: Hat der nicht eben sogar pulsiert? Ich könnte schwören, etwas hat sich darin bewegt, in dem Pickel. An Dorothees Kinn.
Dorothee erzählt, wie das so ist, jetzt in der Beziehung mit Silke und ich meine, das hat man ja schon gelesen: Da werden Leute nachts von einer Spinne gebissen oder einem Käfer und die legen dann die Eier unter die Haut und da wächst dann die Larve und eines schönen Tages, wenn die Larve entwickelt ist, bricht sie dann aus und läuft dann an Dorothees Kinn herunter, über den Hals in die Bluse und weiß Gott, was dann passiert. Vielleicht hat das Dorothee gar nicht bemerkt und ist in Wahrheit Wirtsträgerin eines außerirdischen Parasiten und alles, was ich tun müsste, um die Erde vor einer Invasion durch Reptiloiden zu retten, wäre, kurz über den Tisch zu springen und sozusagen reines Kinn zu machen.
Schließlich kann ich nicht mehr an mich halten und sage: „Dorothee, Du hast da was am Kinn…“. Silke kichert. „Tatsächlich ja, einen Sahnefleck von der Schokolade, die Du eben getrunken hast“, bemerkt sie liebevoll und wischt Dorothee zärtlich den Sahnekleks weg und wir erinnern uns alle lachend an die Kindheit. Wie wir das unisono gehasst haben, wenn die Omi kurz auf das Taschentuch gespuckt und uns einen Fleck im Gesicht entfernt hat. Hihi. Der Pickel ist noch da und grinst.
Ich weiß ja, dass Liebe blind macht, aber dass sie so blind macht, dass man einen leuchtturmartigen Pickel nicht sieht und dann „Schatz, Du hast einen leuchtturmartigen Pickel am Kinn, der wie eine Vorbereitung auf eine Erdinvasion aussieht“ sagt, das will mir nicht in den Kopf. Ich meine, wenn Dorokinn schon den Watz nicht sieht, dann hätte doch wenigstens Silke mal irgendetwas sagen können. Hat sie ja vielleicht auch, ich weiß es ja nicht und Dorothee sagte mit einer tiefen Roboterstimme „ist mir egal, Erdling, das hat schon seine Richtigkeit“ und Silke hat es dann gelassen, keine Ahnung, es ist ja auch nur ein Pickel, ein RIESENDING, ein Pickel mit dem Gesicht von Dorothee hintendran und egal, wie alt ich werden werde und wie wahrscheinlich ich Dorothee vergessen werde, dieses Prachtstück, diesen Prototypen eines völlig formvollendeten Pickels werde ich nie vergessen.
Später dann wird mir der Schatz Vorhaltungen machen, dass ich mich völlig ungehörig benommen hätte. Ich hätte kaum etwas gesagt und Dorothee andauernd angestarrt und Silke sei der Meinung, dass das nur daran liege, dass Dorothee lesbisch und schwarz wäre und ob ich ein heimlicher Rassist wäre, Dorothee könne ja auch nichts für ihre Hautfarbe und falls wir Dorothee überhaupt noch einmal je zu Gesicht bekämen, dann solle ich mich gefälligst mal locker machen, das wäre sehr peinlich gewesen. Und das werde ich bestimmt auch. Wenn sie bis dahin den verdammten Pickel los ist. Dann kann sie meinetwegen auch Cis-gender-female-reverse-and-back-and-forth und grün, gelb oder blau sein. Aber mir fällt halt sowas auf. Ich kann nichts dafür. Ich bin ein Pickelnazi.