Feigheit vor dem Freund
Stellen Sie sich vor, es gäbe im Nahen oder Mittleren Osten
einen Staat, in dem Meinungsfreiheit herrscht, Frauen gleichberechtigt sind und
sogar Religionsfreiheit gilt. Stellen Sie sich ferner vor, dieser Staat wäre
nicht Israel. Würden Sie sagen, „der Westen“, also wahlweise Deutschland, die
EU oder die Nato sollten diesen Staat unterstützen? Speziell gegen
islamistische oder russische Intervention?
Diesen Staat gibt es zwar nicht – aber
es könnte ihn geben. Wenn es „der Westen“ wollte. Die autonomen
Kurdengebiete um Rojava herum sind nämlich genau so, wie oben geschildert,
aufgestellt. Und sie haben die Amerikaner im Kampf gegen den IS unterstützt.
Tatsächlich handelt es sich bei den Kurden in den Autonomiegebieten um die
treuesten Verbündeten des Westens mit einer modernen westlichen
Gesellschaftsstruktur. Ausgerechnet dieser wichtige und wertvolle Verbündete,
der durchaus das Potential zu einem westlich geprägten Musterstaat in der
Region hätte, liegt nun unter dem Feuer türkischer Streitkräfte, weil Erdogan
nichts mehr fürchtet, als einen Kurdenstaat an seiner Grenze.
Objektiv gesehen müsste ein derart selbstherrlicher Diktator
wie Erdogan jeden Kredit bei seinen westlichen Vertragspartnern verspielt
haben: Er paktiert mit dem terroristischen IS, greift ungebeten und ungefragt
in die Souveränität seiner Nachbarstaaten ein, schert sich einen feuchte
Kehricht um geschlossene Verträge und versucht, die NATO in seinen
Angriffskrieg hineinzuziehen, seit sich herausgestellt hat, dass auch seine
Gegner Flugzeuge und funktionierende Waffen haben. Tatsächlich wäre es sowohl
Sache der EU als auch der Amerikaner, dem prächtigen Despoten in Ankara ein
herzliches „Auf Wiedersehen“ zu sagen, als zwischen wachsweichen
Verurteilungen, halb erhobenen Zeigefingern und lauwarmen Warnungen an Russen
und Syrer zu mäandern, während Erdogan selbst versucht, vollendete Tatsachen zu
schaffen. Was ihm bis jetzt nicht gelungen ist.
Es fehlen dem Westen sowohl der Wille als auch die
einheitliche Stimme, mit der er Russen, Syrer und Türken an den
Verhandlungstisch rufen könnte, um den Kurden endlich den eigenen Staat zu
schaffen, den sie sich durch ihre Loyalität und ihre Blutopfer mehr als
verdient haben. Hinzu kommt, dass die kurdische Verwaltung in Rojava angeboten
hat, zuerst 300.000 kurdische und dann bis zu einer Million anderer Flüchtlinge
aufzunehmen, was Erdogan ein Druckmittel nehmen würde, das er immer
unverschämter gegen die EU einzusetzen versucht. Woran aber liegt diese
Feigheit? Dieses Lavieren?
Zum einen erfüllt die Türkei neben ihrer Funktion als
schlecht gelaunter Kerkermeister von Flüchtlingen die militärische
Wächterfunktion über den Bosporus. Hier müsste sich insbesondere die NATO die
Frage stellen, ob diese Funktion nach Ende des Kalten Krieges überhaupt noch
notwendig und sinnvoll ist. Russland hat längst seine Militärbasen an der
syrischen Küste und es ist kaum vorstellbar, ob und wie die Türkei mit ihrem
moralisch flexiblen Führer in einem Ernstfall technisch oder auch nur politisch
in der Lage wäre, russischen Schiffen die Durchfahrt des Bosporus zu
verweigern. Griechenland und Bulgarien könnten mit etwas Hilfe und gutem Willen
durchaus ebenfalls diese Rolle erfüllen. Wo eine potentielle russische
Gefährdung letztlich abgefangen würde, spielt eine eher untergeordnete Rolle. Auch
die Funktion der Türkei als amerikanischer Flugzeugträger zum Schutz Israels
könnte grundsätzlich beispielsweise durch den Libanon übernommen werden. Das
Ganze ist letztlich eine Frage des Geldes.
Daneben fehlen den Europäern die militärischen und
politischen Mittel, einen kurdischen Staat aktiv militärisch zu sichern oder zu
unterstützen, seit sich die Amerikaner aus der Region zurückgezogen haben. Wie
sollten europäisches Material oder gar Truppen Rojava erreichen? Die einzige
Möglichkeit, die die Europäer haben, läge in der politischen und
wirtschaftlichen Isolierung Erdogans und dem ganz klaren Aufstellen von
politischen Stoppschildern. Hier könnte tatsächlich Deutschland als Hauptimporteur
türkischer Güter und zweitgrößter Warenlieferant der Türkei eine führende Rolle
spielen und ein Machtwort sprechen, das auch in Ankara verstanden würde. Knapp
die Hälfte des türkischen Außenhandels spielt sich mit der EU ab. EU-Sanktionen
würden also die türkische Wirtschaft ziemlich schnell krachend zum Einsturz bringen.
Die Möglichkeit wäre also da und es könnte zumindest nicht schaden, Erdogan
einmal die „Folterwerkzeuge zu zeigen“.
Wenn nun also politische und wirtschaftliche Druckmittel
vorhanden sind – warum tut man sich im Westen, in Europa so schwer, Erdogan zu
disziplinieren und den Kurden ihren eigenen Staat zu ermöglichen?
Der eigentliche Grund für das halbgare Armwedeln der westlichen
Staaten dürfte in der türkischen
Diaspora in Europa liegen: in Österreich leben 159.000 Türken, in Frankreich sind
es rund 200.000 Menschen, in den
Niederlanden zählt die türkische Gemeinde 397.000 Personen und in Deutschland
leben rund 1,5 Millionen Türken. Gelänge es Erdogan im Rahmen eines
entsprechenden Konflikts auch nur einen Prozent dieses enormen Potentials zu radikalisieren,
so hätte Europa plötzlich einen harten Kern von über 20.000 Kämpfern mitten im
Lande. Dabei sind Solidarisierungseffekte anderer islamischer Minderheiten oder
eingebürgerter Türkischstämmiger noch nicht berücksichtigt.
Im Klartext: Die Schaffung und Anerkennung eines kurdischen
Staates durch den Westen birgt die Gefahr bürgerkriegsähnlicher Zustände und
terroristischer Angriffe auf europäischem Territorium. Dies gilt im Besonderen für Deutschland mit
seinem hohen türkischen und kurdischen Bevölkerungsanteil, dessen Loyalität,
das haben die letzten Türkeiwahlen gezeigt, nicht unbedingt und zwingend der
Bundesrepublik und ihrem politischen System gilt. Hier besteht die Gefahr, dass
primär innertürkische Konflikte auf deutschem Boden ausgetragen würden, wie
dies in kleinem Rahmen in der Vergangenheit schon passiert ist.
Verkürzt könnte man sagen: Ein souveräner kurdischer Staat,
der mehr als überfällig wäre, wird dem inneren Frieden Europas und speziell
Deutschlands geopfert. Pech für die Kurden, gut für die Türkei, blamabel für den
Westen. Die Kurden werden diesen Verrat nicht vergessen.
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Verdammt. Irgendetwas ging schief. Daran ist nr die AfD schuld. Bitte nochmal probieren!