So! Jetzt reicht es den Grünenden aber endlösungsgültig mit Boris Palmer (im Fachjargon: „dem liberalen Drecksack“). Der Grünen-Fraktionschef im Tübinger Gemeinderat möchte nicht, dass Palmer zur nächsten Oberprüglerwahl 2022 in Tübingen noch einmal antritt. Zumindest nicht für die Grünenden. Und auch Deutschlands berühmtestem Parkettbügler und Wuschelkopf Robert „the brain“ Habecks „Geduld ist erschöpft“.
Was war denn jetzt schon wieder passiert? Boris Palmer sagte im Frühstücksfernsehen ganz brutal: „Ich sag es Ihnen mal ganz brutal: Wir retten in Deutschland möglicherweise Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären.“ Hat er gesagt. Jawohl. Und dann hat er noch einen draufgesetzt, der Palmer Boris. Er meinte, der „Armutsschock, den der weltweite wirtschaftliche Shutdown auslöst, bringe nach Einschätzung der UN Millionen Kinder ums Leben.“ Gemacht wurde von medialer Seite dann daraus: „Palmer grenzt Alte aus“. Und das war die nette Version. Von „Euthanasie“ war selbstunverständlich auch die Rede und von einem Angriff Palmers auf die Menschenwürde. LaOlagleiche Empörungswellen schwappten durch die Republik, dabei hatte Palmer nichts anderes als einen Zielkonflikt benannt.
Wie immer sind Medien und Politiker wenig geneigt, einander zuzuhören. Auf jemanden einzutreten macht allerdings auch mehr Spaß, als auf ihn einzugehen. Ich versuche dennoch, Palmers Gedankengang zu erläutern und zu simplifizieren und es in einem Satz einzudampfen: Macht es Sinn, die komplette Weltwirtschaft an die Wand zu fahren, um manchen Menschen ein ein- oder zwei Jahre längeres Leben zu ermöglichen, wenn diese Maßnahme andere Menschen zwanzig oder vierzig oder sechzig Jahre Lebenszeit kostet?
Ich persönlich finde, dass diese Frage durchaus berechtigt ist und nicht nur gestellt werden darf, sondern sogar gestellt werden muss. Würden wir die Coronabeschränkungen dann lockern oder aufheben, wenn die Selbstmordrate die der Coronatoten übersteigt? Palmer wurde „Herzlosigkeit“ vorgeworfen, aber Mathematik und Logik sind nun einmal herzlos, das beißt die Maus keinen Lebensfaden ab. Matheschulaufgaben orientieren sich am Ergebnis und nicht daran, was das Ergebnis gefühlsmäßig mit dem Schüler macht. Ich weiß, ich habe gut reden, ich bin ja keine 85 Jahre alt. Noch nicht. Und wahrscheinlich denke ich anders, falls ich es schaffe, 85 Jahre alt zu werden. In diesem Falle würde ich mir selbst allerdings freiwillig eine Quarantäne auferlegen, wenn draußen nur noch Verseuchte herumlaufen. Oder, falls ich es selbst nicht mehr entscheiden kann, mir eine Person wünschen, die das zu meinem Besten entscheidet. In meiner eigenen Patientenverfügung habe ich mich gegen „lebenserhaltende Maßnahmen um jeden Preis“ entschieden. Es wäre nur nett, wenn ich dereinst keine Schmerzen hätte.
Sauber und ethisch schön hört es sich natürlich an, dass „jedes Leben erhaltenswert ist“. Wer wollte das auch in Frage stellen? Diesem Satz kann mit Sicherheit jeder zustimmen. Aber natürlich darf es auch Ausnahmen geben: Ich glaube, die Welt ist ohne Julius Streicher oder Osama bin Laden besser dran. Das Ganze ist doch das Dilemma des „Tyrannenmords“. Wäre es legitim gewesen, Hitler zu töten, wenn dadurch der Holocaust oder der Zweite Weltkrieg verhindert worden wären? Ja? Wie war das gerade? Ist eben nicht „jedes Leben erhaltenswert“? Da ist er, der Zielkonflikt: Wirkt das Leben eines 85-jährigen schwerer als das von zehn Zehnjährigen? Oder umgekehrt: Sind zehn afrikanische Kinder mehr wert als ein deutscher Rentner im hohen Alter mit einer Latte Vorerkrankungen? Die Aussage Palmers lässt sich durchaus hin und her drehen – wenn man böswillig ist.
Ich glaube, Palmer wird nicht zum Vorwurf gemacht, dass er die entsprechende Aussage getätigt hat. Vielmehr gilt der Vorwurf der Tatsache, dass er die Frage überhaupt aufgeworfen und so die agierenden Politiker in ihrer Behaglichkeit gestört hat. Denn tatsächlich begeht Palmer, wenn er ihn denn begeht, einen viel schlimmeren Tabubruch: Er redet darüber, dass Menschen sterben. Und das werden wir nun einmal und dereinst alle müssen, egal, ob Raucher oder Fahrradfahrer. Wir reden in diesem einen Fall nie über das „ob“, sondern nur über das „wann“. Bestenfalls noch das „wie“.
Es ist nun einmal ein unumstößlicher Fakt, dass wir alle sterblich sind. Und die allermeisten Menschen sterben an Altersschwäche oder den damit einhergehenden Krankheiten. Wir haben nur den Tod aus unserer Gesellschaft verbannt und nehmen ihn möglichst nicht mehr zur Kenntnis. Palmer hat tatsächlich den Tod aus dem Vergessen gerissen. Und dann wird der Tod eben zur „Preisfrage“.
Natürlich sollten wir als Gesellschaft darüber nachdenken, bis wann eine Herztransplantation noch sinnvoll ist. Und da würde ich eine 30-jährigen Familienvater durchaus im Vorteil gegenüber einem 90-jährigen Pflegefall sehen. Erst recht, wenn ich als Arzt nur ein Herz zur Transplantation zur Verfügung hätte und danach im wahrsten Wortsinne herzlos bin. Ich glaube, die Entscheidung fiele mir leicht… Selbst, wenn der 90-Jährige mein Vater wäre. Und so haben wir eben nur eine Weltwirtschaft, die 8 Milliarden Menschen ernähren muss, die ist nun einmal unser Herz. Das Herz der Menschheit. Ob uns das gefällt oder nicht gefällt, ist gar nicht die Frage. Es ist eben so. Wenn wir diese Wirtschaft ausknipsen, um Alte zu schützen, die wir nicht einmal gefragt haben, ob sie denn geschützt werden wollen, welchen ethisch-moralischen Preis sind wir bereit, dafür zu zahlen? Welche „hässlichen Bilder“ können wir ertragen und welche Bilder sind „hässlicher“? Wem nutzen oder schaden wir dabei auf lange Sicht?
Und genau aus diesen Fragen lässt sich auch mir ein veritabler Strick drehen: Böswillig und auf die Spitze getrieben, könnte man mir unterstellen, ich spräche mich verklausuliert dafür aus, Menschen ab einem Alter X einfach töten zu wollen, wenn es den Jüngeren nützt. So schnell wären wir dann im Jahre 2022 und bei „Soylent Green“.
Dabei meinten es weder Palmer noch ich so. Im Grunde geht es darum: In welcher Welt wollen wir leben – und sterben? Und wer zahlt welchen Preis dafür? Denn wenn wir nicht über exakt diesen Punkt diskutieren, dann sterben letztlich sowohl die Jungen als auch die Alten früher und schneller. Ist es das, was wir dann unter „ethischer Gerechtigkeit“ verstehen? Die Problematik nicht sehen zu wollen, ist auf jeden Fall bequemer. Solange es einen nicht selbst betrifft.
Ich habe, ebenso wie Palmer, der Papst und sogar meine Mutter, keine Lösung anzubieten. Ich weiß nicht, was richtig oder falsch ist. Ich kann nur versuchen, mir anhand der Diskussion über das Thema eine Meinung zu bilden. Dazu muss aber eine Diskussion überhaupt erst einmal stattfinden. Und das hat Palmer leichtsinnigerweise versucht.