Die Begeisterung für Busfahrer und Pflegepersonal kennt derzeit keine Grenzen mehr und ist mittlerweile sogar so groß, dass sich Menschen an Fenster stellen und einfach mal applaudieren. Ja, warum denn auch nicht? Natürlich sind sich weite Teile der Bevölkerung darüber einig, dass die Menschen in nichtakademischen Berufen extrem schlecht bezahlt sind und da doch „endlich mal etwas passieren müsste“. Zumal eben ohne einen Busfahrer kein Bus fährt – wenigstens bis Google und Co so weit mit dem autonomen Fahren sind.
Bei solch überbordender Freude über die stillen Helden der Alltagstätigkeit und ohne deren Verdienste um die Gesellschaft schmälern zu wollen: Es wird doch gerne vergessen, wie unsere Wirtschaft so funktioniert. Ketzerisch gefragt: Wer braucht schon einen Bankkaufmann oder eine Reiseverkehrskauffrau? Sind eine Boutiquenbesitzerin und ein Friseur wirklich „systemrelevant“? Und wer entscheidet das?
Für die Spargelbauer sind Spargelstecher und -Ernter absolut systemrelevant, mir als Nicht-Spargelesser sind die völlig egal. Dann esse ich eben Kuchen. Meine Reiseverkehrskauffrau ist für mich sehr relevant, da ich mir gerne die Welt ansehe und auch gerne ansatzweise weiß, wo und zu welchem Preis ich die Nächte verbringe. Der Pilot der Maschine, die mich da hinbringt, ist für mich ebenfalls systemrelevant, Lokführer brauche ich keine, ich fahre so gut wie gar nicht mit der Bahn. Von einem egoistischen Standpunkt haben unterschiedliche Berufe also für mich unterschiedliche Relevanzen, abhängig von meinem Lebensstil und meinen Präferenzen. Ich brauche kein Nagelstudio, ich kann mir die Finger- und Fußnägel selbst schneiden. Anderen aber ist das so wichtig, dass sie sogar bereit sind, dafür Geld auszugeben, dass ihnen jemand bunte Bilder auf die Haut aufmalt. Wer bin ich, das zu be- und verurteilen?
Sicher ist es für eine funktionierende Sozial- und Solidargemeinschaft wichtig, dass jemand den Müll entsorgt. Sind aber deswegen Anwälte weniger wichtig und eigentlich überbezahlt? Wenn mir morgen ein Bußgeldbescheid über 25.000 Euro ins Haus wegen des Verstoßes gegen irgendein Corona-Gebot ins Haus flattert, glaube ich nicht, dass ich die Lösung meines Problems mit der Busfahrerin draußen oder dem Mundschutznäher des Krankenhauses besprechen sollte. Da halte ich einen Rechtanwalt doch für sinnvoller. Und was ist mit dem Kraftwerksmeister, der dafür sorgt, dass ich beim Druck auf den Lichtschalter auch Licht bekomme?
Gut, ich könnte auch auf Kerzen umsteigen – nur brauche ich dazu eine Firma und einen Arbeiter, der Kerzen produziert. Und einen Lohnbuchhalter. Und einen Einkäufer. Und einen Bankkaufmann, der den Kredit zum Kauf des Materials vorschießt. Die gleichen Lohnbuchhalter und Einkäufer sitzen auch in den Krankenhäusern und in der Supermarktverwaltung und sehen zu, dass das beklatschte Personal auch bezahlt wird. Sind die also jetzt weniger wichtig als die Pflegerin oder der Pfleger „am Mann/an der Frau“? Warum aber bekommt der Kerzenzieher weniger Gehalt als der Lohnbuchhalter? Ich vermute, dass es daran liegt, dass der Lohnbuchhalter spezialisierter als der Kerzenzieher arbeitet. Dass der Lohnbuchhalter eine zeitintensivere Ausbildung genossen hat als der Kerzenzieher. Da ein Rechtsanwalt noch mehr Zeit in seine Ausbildung als der Lohnbuchhalter gesteckt hat, verdient er sogar noch mehr – wenn er denn genug Klienten hat.
Nehmen wir den Busfahrer, der tapfer potenziell tödlich kranke Fahrgäste befördert: Ohne den Arbeiter am Fließband, der den Bus gebastelt hat und ohne die Mechatronikerin, die seinen Bus wartet, fährt der Busfahrer gar nichts. Auch nicht ohne den oben erwähnten Lohnbuchhalter, auch nicht ohne die Disponentin und auch nicht ohne die Beamtin, die die Busfahrpläne erstellt hat. Er fährt nicht ohne den Straßenwart, den Produzenten der Verkehrsschilder und die Ein- und Verkäufer von dessen Firma und er fährt auch nicht ohne den Ingenieur und die Designerin, die Technik und Ausstattung seines jetzigen Busses und seines nächsten Busses planen. Er könnte nicht ohne den Fahrschullehrer fahren, der ihn ausgebildet hat und er fährt nicht einmal ohne die Polizistin, die darauf achtet, dass keine Idiotin die Busspur zuparkt. Er fährt auch nicht in einer Stadt, in der es weder Wirtshäuser, Biergärten nebst Personal, noch Friseure, noch Boutiquenbesitzer gibt, schlicht, weil da keiner hinwill. Er fährt nicht ohne den Versicherungskaufmann, der den Beitrag für die Haftpflichtversicherung kalkuliert hat und er fährt nicht ohne den Bankkaufmann, der dem Bushersteller den Warenkredit für das Rohmaterial genehmigt hat. Er fährt auch nicht ohne das Kindergartenpersonal und die Lehrerschaft, die seine Kinder betreuen und ausbilden. Ja, unser Busfahrer kann nicht einmal ohne die Reiseverkehrskauffrau in den wohlverdienten Urlaub fahren, es sei denn, er wählt nur Orte, die er selbst mit dem Bus erreichen kann und an denen er die Landessprache beherrscht – sonst wird es mit der Zimmerbuchung etwas blöde und kompliziert. Bei der Hotelbesitzerin, die ja irgendwie auch nicht „systemrelevant“ ist. Tschüss Mallorca.
Oder Kultur: Braucht unser Busfahrer Musiker, Comedians, Literaten? Braucht er nicht, wenn er taub oder blind oder beides ist. Allerdings fährt er dann auch keinen Bus mehr. Ansonsten findet er es vielleicht ganz angenehm, in seiner Freizeit Musik zu hören, zu lesen (selbst, wenn es nur die BILD sein sollte) und zu lachen. Oder wenigstens in ein Kino zu gehen, dessen Filme entweder möglichst gute Schauspieler oder möglichst gute Programmierer brauchen. Und einen Regisseur. Und einen Friseur. Und einen Maskenbildner und Kulissenbauer und Kameramann. Und einen, der die Storyboards malt. Und den Drehbuchautoren. Oder er schaut sich schon gedrehte Filme an, wozu er aber immer noch den Kinobetreiber und den Typen braucht, der die Filme im Keller liegen hat. Und wenn er lustige Bilder auf seiner Haut haben will, kann er entweder zum Kuli greifen – oder eben zum Tätowierer gehen, der das hoffentlich beständiger, professioneller und hygienischer macht.
Die nette Geste des Fensterklatschens mag ihn freuen – aber wer wirklich meint, unser Busfahrer bräuchte mehr Gehalt: Der kann ihm, genauso wie dem Pfleger und der Putzkraft im Krankenhaus, gerne zehn oder zwanzig Euro Trinkgeld zahlen. Niemand hindert mich, einem anderen Menschen Geld zu schenken oder zu spenden. Zumindest, solange es noch Bargeld gibt. Aber auch da ist unser Staat ja dran, das abzuschaffen, der ist nämlich sauer, wenn er keine Steuern und Sozialabgaben kassieren kann. Hier hilft übrigens eine Steuerberaterin. Welche Berufe sind also nicht „systemrelevant“ und haben kein Fensterklatschen verdient?
Unsere Gesellschaft lebt von Spezialisten und Spezialistinnen jedweder Art und je spezialisierter und seltener und zeitaufwendiger ein Beruf ist, desto besser wird er bezahlt. Das geht sogar so weit, dass ein Mensch eine absolute Hohlmeise sein und keinen annähernd verständlichen und logischen Satz herausbringen kann. Wenn er aber in der Lage ist, einen Ball, der aus jedweder Richtung geflogen kommt, festzuhalten – dann verdient er Millionen in einem Spitzenfußballverein. Bezahlt von den Tausenden von Leuten, die das nicht können, von den Busfahrern, Pflegern, Müllentsorgern, Lohnbuchhaltern, Ärzten, Rechtsanwälten, Bank- und Versicherungskaufleuten, die in ihren Berufen das Geld erwirtschaftet haben, um sich ein Ticket fürs Stadion oder ein Sky-Abo zu kaufen. Und die klatschen dann für ihn.