Das Örtchen Lutynia in Polen mit seinen 1359 Einwohnern ist heute ein unbekanntes Nest, auf dessen Gemeindegebiet der Sockel eines 1945 gesprengten Denkmals steht. Errichtet wurde dieses Denkmal in Form einer Siegessäule im Jahre 1852 und sollte an eine weitere 100 Jahre vorher stattgefundene Schlacht erinnern, die einen Meilenstein in der Militärgeschichte markierte und deren Verlauf heute noch in Militärakademien rund um den Globusgelehrt wird: Die Schlacht von Leuthen am 5. Dezember 1757. Friedrich der Große besiegt mit der berühmten „schiefen Schlachtordnung“ ein fast doppelt so starkes Heer aus Österreichern und „Reichstruppen“, in der Hauptsache aus württembergischen und bayerischen Kontingenten bestehend.
Zum 263sten Mal jährt sich dieses Jubiläum heuer, kein besonderes Datum und kein besonderer Anlass. In den Schulen wird die Geschichte der Schlachten und was bei und in diesen geschah, heute nicht mehr gelehrt. Geschichtsunterricht ist heute (wie früher oft auch) einfach nur ein Parforce-Ritt von den nichtexistenten Germanen über ein wenig Mittelalter und deren ständisches Gesellschaftssystem, danach kam der Dreißigjährige Krieg (dessen Verlauf und wechselnde Bündnisse heute noch manchen Historiker hoffnungslos überfordern – „Jeder gegen jeden“, wäre die passende Bezeichnung), ein bisschen Aufstieg Preußens („Fritz hieß der Typ und er hatte Windhunde und war schwul“), eine dreiviertel Stunde Napoleon, erster Weltkrieg, Weimarer Republik, Hitlerhitlerhitlerhitlerhitler, ganz kurz Adenauer, Schmidt und Kohl, eine Prise lustige DDR und fahnenschwingende Hirnentkernte, Wiedervereinigung mit Trabi-Bildern und dann Schulabschluss.
Geschichte besteht ja bekanntlich aus Geschichtchen und wer sich den genauen Verlauf der Schlacht antun möchte, der kann diesen beispielsweise auf Wikipedia nachlesen. Ansonsten gibt es beispielsweise auf Amazon recht gute Werke. Wer allerdings den Suchbegriff „die Schlachten“ eingibt, wird als erster Treffer auf „die Schlachten von Westeros“ verwiesen, fiktive Schlachten eines fiktiven Romans. Sie müssen im woken Zeitalter schon etwas pfiffiger sein und zusätzlich „Friedrichs des Großen“ eingeben, um an die reich bebilderte Ausgabe von Dorn und Engelmann von 1900 zu kommen, das mit knapp 50,- € zwar etwas happig, aber sehr bunt, nichtsdestoweniger exakt daherkommt.
Für alle, denen die einzelnen Truppenbewegungen und Skizzen zu trocken sind, hier die ganze grobe Zusammenfassung: Die Österreicher und ihre Reichsverbündeten hatten sich mit rund 66.000 Mann über eine imposante Linie von 9 Kilometern Länge aufgeklappt, um Friedrich und seinen 35.000 Preußen den Marsch auf das strategisch wichtige Breslau, die Hauptstadt von Friedrichs Lieblingsbeuteprovinz Schlesien zu verlegen. Friedrich selbst fand das sehr ärgerlich, denn seine 35.000 Soldaten bestanden zu guten Teilen aus dem kümmerlichen Rest seiner „Schlesischen Armee“, der sich soeben frisch aus der krachenden Niederlage der „Schlacht von Breslau“ am 22. November zu seinen Kerntruppen gehumpelt hatte. Vielleicht war es einfach nur Glück, vielleicht ein gutes strategisches Auge, dass Friedrich erkannte, dass er hinter den Hügeln, die vor der österreichischen Aufstellung lagen, einen verborgenen Flankenmarsch würde ausführen können, statt seinen Gegner mit seinen ziemlich demoralisierten und frierenden Truppen frontal anzugreifen.
So ließ also Friedrich mit der Kavallerie seines linken Flügels Scheinangriffe gegen die rechte Flanke der Österreicher führen, was deren Oberbefehlshaber, Prinz Karl Alexander von Lothringen, dazu veranlasste, seine Reserven sicherheitshalber ans falsche Ende seiner Schlachtordnung zu beordern. Man kann das verstehen, der Mann war nervös, weil er bereits mehr als eine Schlacht gegen die Preußen trotz Überzahl versemmelt hatte. Während also Prinz Karl zitternd die Geschehnisse an seinem rechten Flügel beobachtete, marschierten Friedrichs Hauptkräfte in einem Gewaltmarsch hinter den besagten Hügeln fast rechtwinklig auf die linke Flanke der Verbündeten, wodurch Friedrich am neuralgischsten Punkt seines Gegners eine örtliche Übermacht gewann. Im Ergebnis rollten die Preußen nahezu die Hälfte der österreichischen Front wie ein Stück Papierrolle auf und drängten die Österreicher bei dem Örtchen Leuthen zusammen. Die fliehenden Truppen des österreichischen Flügels trafen auf die hypernervösen und desorganisierten Soldaten der Mitte, es bildeten sich Knäuel aus Männern, die weg wollten und anderen, die Front machen wollten und schließlich brach die komplette Armee Prinz Karls wie die brennenden Dachstühle Leuthens in sich zusammen.
Prinz Karl hatte damit das letzte Mal eine Schlacht vergeigt und wurde trotzdem, mit einem hübschen Orden versehen, als Gouverneur ins angenehme Brüssel abgeschoben, wo er als Verwalter gar keine schlechte Arbeit geleistet haben soll. Es war damals nicht anders als heute. Fett schwamm und schwimmt immer oben. Das Schlachtfeld „gehörte“ den Preußen, was in der Praxis hieß, dass sich die völlig erschöpften Männer an Ort und Stelle niederließen, wenn sie nicht gerade einen der 16.000 herumliegenden Toten plünderten oder ihre mageren Rationen abkochten. Angeblich sangen Friedrichs Truppen nachts an den Feuern den Choral „Nun danket alle Gott“, wohl in der Hoffnung, nicht noch weitere Monate und Jahre unter Lebensgefahr durch die schlesischen Hügel marschieren zu müssen. Friedrich solls mit Ärger vernommen haben. Er war noch nicht am Ziel.
Auf den Bildern im oben empfohlenen Buch sieht das alles recht interessant und opulent aus: Die Preußen und ihre Gegner in hübschen leuchtenden Uniformen, wehende Fahnen und tapfere Krieger im Nahkampf. Tatsächlich dürften die einzelnen Soldaten Probleme gehabt haben, Freund und Feind zu unterscheiden und „friendly fire“ dürfte keine Seltenheit gewesen sein. Alle waren sie dreckig und schwarz von Pulver, Rauch und Ruß wie die Kohleschaufler auf der Titanic, die Monturen waren verschmutzt, nass und unvollständig, die Männer waren hungrig und müde und froren „wie die Schneider“ (und wir können ZIEMLICH frieren) und nur die wenigsten dürften noch intaktes Schuhwerk gehabt haben. Selbst die heroisch im Wind wehenden Fahnen sind Legende und dürften im Nebel der Pulverdämpfe für die Generäle und Offiziere kaum zu sehen gewesen sein. Ich schätze, Friedrich und sein Stab glotzten einfach in grauen Rauch, aus dem gelegentlich Mündungsfeuer blitzte und ansonsten lautes Gebrüll kämpfender Soldaten zu hören war. Ich vermute auch, dass es Friedrich erst relativ spät klar wurde, dass er gewonnen hatte. Schlicht, weil er nichts erkennen konnte. Auf der Gegenseite dürfte Prinz Karl in dem Moment Fersengeld gegeben haben, als er sich in einer Masse flüchtender Soldaten fand, die für keine Befehle mehr ansprechbar waren. Vielleicht kam auch irgendwann ein zerrissener und heulender Subaltern mit den Worten „es ist vorbei, nichts geht mehr, rettet Euch, Eure Majestät“ auf ihn zugesprengt. Ich bin mir auch sehr sicher, dass die, die dabei waren, keinen Schimmer hatten, dass sie soeben Teilnehmer an einem geschichtlichen Ereignis allerersten Ranges geworden waren. Und wenn sie es gewusst hätten, wäre es ihnen zwischen dem Schweigen der Toten und dem Gebrüll der Verwundeten egal gewesen. Sie hatten überlebt – das – und NUR das – zählte für die einfachen Soldaten.
Herzlichen Glückwunsch übrigens! Wenn Sie bis hierher durchgehalten haben, dann haben Sie tatsächlich (hoffentlich) etwas gelernt und sind um Wissen schlauer, das Ihnen auch nichts nutzt. Ich hoffe, interessant war es trotzdem und Sie können irgendwann damit etwas anfangen. Und sollten einmal entsprechende Reenactments in Ihrer Nähe stattfinden: Schauen Sie es sich ruhig an und tauchen Sie für ein paar Minuten in eine Zeit, in der das Hauptproblem der Menschen nicht die korrekte Bestimmung ihres Geschlechts war. Das war allerdings keine bessere Zeit – nur eine andere. Als noch mehr Soldaten an Krankheiten als durch Kampfhandlungen starben. An diesem 5. Dezember 1757. Bei Lutynia, Polen. Das keiner der Kontrahenten behielt.