Ilse K. (Name und Geschichte sind komplett fiktiv) wurde am 15.06.1939 in Würzburg geboren. Ihr Vater Ernst und ihre Mutter Gisela entstammten der Würzburger Mittelschicht. Ernst war selbständiger Schneider und hatte eine ganz gute Auftragslage, zumal er in diesem Jahr immer mehr damit beschäftigt gewesen war, Militäruniformen anzupassen. Gisela war, bis zu ihrer Schwangerschaft, als Telefonfräulein in der Vermittlung beschäftigt. Ernst wurde 1944 schließlich in Russland als „vermisst“ gemeldet, kam tatsächlich jedoch 1946 aus russischer Kriegsgefangenschaft in das total zerstörte Würzburg zurück. Ernst und Gisela bekamen 1949 noch einen Sohn, auf den Ilse in schöner Regelmäßigkeit aufpassen musste, während ihre Eltern wieder beide berufstätig waren, um der Familie das kleine Häuschen in den Ausläufern der Sanderau, einem Stadtteil von Würzburg, wieder aufzubauen und aufzustocken.
Ilse beendete die Schule 1955 mit der „Mittleren Reife“ und machte danach eine Ausbildung zur Steuerfachgehilfin in einer renommierten Würzburger Steuerberatungskanzlei, bei der sie bis 1960 blieb. Sie hörte gerne deutsche Schlager und Bill Haley, Elvis war ihr etwas zu aggressiv und proletenhaft und mehr als einmal schallte der Ruf „mach den Jazz aus“ durch das Haus in der Sanderau. Sie tanzte sehr gerne und mochte es, wenn ihr Petticoat flog. Ungefähr 1960 lernte Ilse in der Schneiderei einen hübschen jungen Mann kennen, der ihrem Vater seine neuesten Kollektionsentwürfe für Damenkleider präsentierte, da er für die Muster einen guten Schneider benötigte. Ilse verliebte sich Hals über Kopf.
Ilse und Werner heirateten 1964 und galten in ihren Familien als Traumpaar. Sie liebte ihren Werner sehr und 1966 wurden erst ihr Sohn, 1969 ihre Tochter geboren. Werner wechselte 1972 zu einer Versicherung, nachdem seine eigene Schneiderei nicht mehr genug an Einkommen abwarf und war sehr fleißig, ebenso wie Ilse, die ihre Arbeit als Steuerfachgehilfin mehr oder weniger ebenfalls wieder aufgenommen hatte, da sie hier auch von zu Hause, bei den Kindern, arbeiten konnte. 1974 kauften sich beide ein Reihenhaus mit Flachdach in einem der Örtchen um Würzburg herum und Ilse machte endlich den Führerschein, weil die Busverbindungen nach dort so schlecht waren. Einen kleinen Datsun gab es als Geschenk zum Führerschein dazu. Sie feierten Geburtstage und Weihnachten, „old fashioned“, wie man heute sagen würde und waren fleißige und gute Menschen, die ihren Kindern ein Heim geben wollten.
Die Kinder wurden größer und gingen schließlich aus dem Haus, dafür zog Ilses Vater Ernst, schwer dement, nach dem Tod von Gisela bei ihnen ein. Ilse arbeitete jetzt halbtags, um ihren Vater versorgen zu können, der schließlich im Jahr 1986 hochbetagt starb. Ilse freute sich, dass sie nun endlich genug Zeit mit Werner würde verbringen können. Sie hatten einen großen sympathischen Bekannten- und Freundeskreis und machten ein paar schöne Urlaube und Reisen miteinander. Allerdings währte diese harmonische Zeit nicht lange, weil bei Werner 1992 ein bösartiges Lungenkarzinom festgestellt wurde. Er starb 1995 daran, nicht ohne noch wenigstens einen Blick auf sein erstes Enkelkind geworfen zu haben. Ilse lernte danach noch einige Herren kennen, aber an ihren verstorbenen Werner kam eben doch keiner heran. Einmal in der Woche besuchten sie ihre Kinder in dem Vorort, das samstägliche Frühstück mit allen wurde festes Ritual in der Familie. 1997 kamen gleich zwei weitere Enkel zur Welt, 2004 schließlich der Vierte, Tobias, der Nachzügler. Ilse ging in diesem Jahr vorzeitig in Rente und übergab die obere Wohnung ihres Hauses an ihre Tochter, die sich nach der Trennung von ihrem Mann keine Wohnung in Würzburg leisten konnte. Ilse passte tagsüber auf ihr Enkelkind auf, während ihre Tochter sich alleine um den Lebensunterhalt bemühte.
2014, zum 75sten Geburtstag, kamen der Bürgermeister und der Pfarrer des Örtchens vorbei und gratulierten ihr herzlich.
Am 25.06.2021 verabredete sich Ilse mit ihrer Tochter für den Nachmittag in der Würzburger Innenstadt zum Eis essen. Sie war schon lange nicht mehr in Würzburg gewesen, weil sie jetzt nicht mehr Auto fahren konnte und so hatten sie verabredet, dass Ilse mit dem Bus nach Würzburg fahren würde und sich dort mit ihrer Tochter treffen würde. Ilse beschloss, im Woolworth noch ein paar stützende Kniestrümpfe zu kaufen, da ihr ihre Beine nun doch langsam Probleme machten, was mit 82 Jahren auch kein Wunder war, wie sie selbst für sich lächelnd beschloss. Wenn es nur das war, was sie in diesem Alter quälen würde… Sie suchte gerade nach der für sie passenden Größe, als sie neben sich Schreie hörte. Ein Mann stach mit einem Messer auf eine Frau ein, die sich schützend vor ihr Kind geworfen hatte. Ilse dachte keine Sekunde lang nach und versuchte, mit ihren schwachen Kräften den Täter von der schreienden und blutenden Frau wegzuziehen. Das verletzte Kind, ein etwa 11-jähriges Mädchen, wand sich unter seiner sterbenden Mutter hervor und rannte schreiend aus dem Laden. Ilse hatte den Täter nur kurzzeitig ablenken können, jetzt stach dieser auf sie mehrere Male ein und das letzte Wort, das Ilse einfiel, während sie verblutete, war „Werner“. Aber ihre Tat hat das Mädchen gerettet. Ihre Urenkel wird sie nie kennenlernen.
Die Zeitungen berichteten später von Chia Rabiei (42), einem frisch aus Kurdistan stammenden Flüchtling, der derzeit in einer Asylbewerberunterkunft lebt und dem fliehenden Täter seinen Rucksack entgegenwarf und den er außerdem mit „selbst erlernten Kampfsportbewegungen“ einschüchterte. Für diese Tat will ihm der bayerische Ministerpräsident die Tapferkeitsmedaille überreichen. „Danke, dass Sie den Mut haben, sich zu engagieren ohne, dass Sie scheinbar verpflichtet sind.“ (Ton und Kommafehlern aus Welt.de übernommen), ehrt ihn Markus Söder. Er gilt als „Held von Würzburg“.
Es gab an diesem Tag drei Tote und mehrere Verletzte. Bei dem Gedenkgottesdienst für die Opfer am 27. Juni werden die anwesenden Politiker, deren „Gedanken“ stets „bei den Opfern“ sind, namentlich begrüßt. Ilses Name und die der anderen Opfer bleiben ungenannt. „Don´t say their names.“ Der „liebe Flüchtling“ hat den „bösen Flüchtling“ aufgehalten, somit ist die Waagschale wieder im Gleichgewicht und es wäre jetzt höchst populistisch, hier weitere Fragen zu stellen. Es ist alles wieder gut.
Daher sind Ilse und ihre Geschichte auch rein fiktiv und nur meiner Fantasie entsprungen. Vielleicht geht die Geschichte auch ganz anders. Wir werden es nie erfahren. Es gibt lediglich über die ermordete Mutter einige dünne Angaben. Aber ich glaube, Ilse würde auf eine Würdigung sowieso keinen Wert legen. Sie tat, was sie für richtig und selbstverständlich hielt. Sie bezahlte dafür mit ihrem langen Leben.
Dieses Land und seine Medien und Politiker widern mich nur noch an.
P.S. Zumindest ist mittlerweile der Vorname bekannt. Die wahre Heldin dieses Dramas heißt Johanna. Sie gab ihr Leben, damit ein Kind seines behalten darf.