Ich habe ein sehr großes Problem, das eigentlich kein Problem ist, aber schon doch auch ein Problem: Ich kann mir keine Gesichter und wenn doch, dann keine Namen dazu merken. Neulich zum Beispiel: Da bummele ich nichtsahnend mit der besten Lebensgefährtin der Welt durch die Fußgängerzone, als plötzlich eine wildfremde Frau auf mich zustürmt und mich umarmt: „Ja hallo, Mensch, altes Haus, lange nicht gesehen... Wie geht´s Dir denn?“ Ich bin etwas perplex. Die Anzahl meiner bisherigen Liebschaften lässt sich an den Fingern einer Hand abzählen, weil ich doch sehr anständig bin und außerdem zu einer Zeit erwachsen wurde, als noch nicht sicher war, ob Aids nicht bereits durch Ansprechen übertragen wird. Die ignorierte Lebensgefährtin ist genauso verdutzt wie ich. Wer ist´s, der mich hier begeistert und enthusiastisch in den Schwitzkasten nimmt? Die Dame hat augenscheinlich mein Alter, aber…
Ich überlege fieberhaft meine Optionen. Fakt ist, ich habe nicht den leisesten Hauch einer Ahnung, wer mein Groupie ist. Gebe ich das aber zu, dann wirkt das sehr rücksichtslos und oberflächlich, was ich ja eigentlich auch bin, aber das muss ich ja nicht jedem auf die Nase binden. Jedenfalls nicht gleich. Frage ich also, wer denn die Holde ist, oute ich mich. Außerdem ist es peinlich, dass sie zwar mich, aber ich nicht sie kenne, was bedeutet, dass ich ihr besser im Gedächtnis geblieben bin, als sie mir. Das hat ja wohl einen Grund. Den ich lieber nicht wissen will.
Eine Bekannte von mir, deren Lebensstil mit „promiskuitiv“ nur unzureichend beschrieben wäre, antwortete auf die gleiche Frage „na, kennst Du mich nicht mehr?“ mit einem schlanken „haben wir miteinander geschlafen?“, aber das kann ich ja nicht machen, weil ich ein Mann bin (oder wenigstens mal war) und die beste Gefährtin nebendran steht und außerdem wäre es mir dann peinlich, wenn sie mit „nein“, oder, schlimmer, mit „ja“ antworten würde. Außerdem war ich in der Auswahl meiner Gespielinnen immer sehr wählerisch. Und bis zum Filmriss habe ich mich noch nie betrunken. Die begeisterte Dame vor mir habe ich definitiv nicht beschlafen. Sie muss mich woanders her kennen. Und sie muss mich nah genug kennen, dass ich eine Umarmung wert bin.
Eine meiner drei halben und einer ganzen Schwester ist es auch nicht. Die wohnen woanders. Und die hätte ich auch erkannt. Wahrscheinlich. Am Besten ist es, ich bleibe unverbindlich: „Ja, öhm, gut, wie Du siehst, das da ist übrigens Madeleine, meine Lebensgefährtin, die da gerade kichert.“, und ich zeige mit dem linken Daumen auf die Gefährtin. „Oh“, sagt das Groupie leicht ernüchtert und lockert die Umarmung. „Ich dachte, Du seist noch verheiratet“, sagt sie auch. „Ehm, hihi, nein, also doch, ja, demnächst wieder (liebevoller Blick zur Gefährtin) und wie geht es Dir so?“, entgegne ich, in der Hoffnung, ihre Zustandsbeschreibung möge die Nebel über meiner Erinnerung lichten. Meine Umarmerin seufzt. „Ach“, sagt sie, „seit mich Dieter verlassen hat…“ Und ich kenne keinen Dieter. Ich habe nie einen Dieter gekannt und wahrscheinlich werde ich nie einen Dieter kennenlernen. Ich meide Menschen, die Dieter heißen. For no particular reason, just because. Und wer hat in den 60ern und 70ern sein Kind schon Dieter genannt?
Mein Fan kommt jetzt in Erzähllaune: „Am Anfang war das nicht einfach, deswegen musste ich dann ja bei der Rent-a-Slave-Arbeitsvermittlung anfangen mit dem Halbtagsjob…“, nein, keine Chance. Es klingelt nicht. Ich kenne keine Arbeitsvermittlung, „…aber ich habe dann tatsächlich eine Ganztagsstelle beim Lebensmittelmüller bekommen, wie Du ja vielleicht weißt…“, woher zur Hölle soll ich das wissen? Ich kenne keinen Lebensmittelmüller und keine Ganztagsstelle, „…ja und nachdem ich mir ja den Labrador gekauft hatte…“, ich kenne keine Leute, die einen Labrador haben und will auch keine Labrador-Menschen kennen, „…bin ich dann nach Untermeisenheim gezogen…“, wo auch immer dieser Höllenort liegen mag, ich habe nicht den Hauch einer Ahnung, „…auch wegen Kevin und Isabell…“, wer immer das ist, ich vermute, es handelt sich um die Frucht ihrer Lenden, auf jeden Fall aber bitte auch um Dieters Lenden und nicht um meine, „…und seitdem geht es mir auch besser. Bis auf den Bandscheibenvorfall vor zwei Jahren und die Depressionen danach…“, Fehlanzeige. Weder Bandscheibe noch Depressionen. Ich habe weder im engeren, noch im weiteren Bekanntenkreis Menschen mit derartigen Beschwerden, „…aber so weit bin ich wieder hergestellt, wie Du siehst…“, verkündet sie stolz.
Das hat jetzt alles nicht wirklich weitergeholfen. Ich bin etwas ratlos. „Und? Wo gehst Du jetzt hin?“, frage ich, um überhaupt etwas zu fragen. „Ich gehe einkaufen, ich brauche noch Brot und Balsamico und noch ein paar andere Kleinigkeiten“, gibt mir die schnöde Unbekannte brav zurück. Ich versuche es mit einer List: „Sag mal, weißt Du, was aus der Dings, wie hieß sie doch gleich… weißt Du, was aus der geworden ist?“ Mein Gegenüber denkt nach: „Du meinst sicher die Petra Schmitt! Du, die hat geheiratet und wohnt jetzt in München. Heißt jetzt Schmitt-Hindelang“, und es dämmert mir. Es dämmert mir, dass ich keine Ahnung habe, wer Petra Schmitt, jetzt Schmitt-Hindelang, ist. Ich habe diesen Namen noch nie gehört. Ich kenne auch niemanden in München. Außer Alexandra, aber die heißt anders. Anders heißt sie mit Nachnamen.
„Das ist schön“, gebe ich zu Protokoll, „…aber Du, wir müssen jetzt weiter, war echt schön, Dich mal wieder zu, ehm…“ „Ja, Thomas, das finde ich auch!“, freut sich die Kuschlerin offensichtlich. „Haha“, antworte ich, „Thilo! Ich heiße doch Thilo!“ Die Straßenschmuserin tritt zwei Schritte zurück und mustert mich und grinst: „Na komm. Du bist doch Thomas. Thomas Lange aus Elsterfeld. Wir haben doch zusammen Abi gemacht… Kennst Du mich echt nicht mehr?“, sie wirkt verblüfft und etwas enttäuscht, „…wir waren doch danach noch Zelten auf dem Campingplatz in Bozen…“ „Nein, das weiß ich bestimmt. Ich heiße Thilo Schneider, ich habe kein Abi, hasse Zelten, habe nie gezeltet und komme auch nicht aus Elsterfeld, sondern aus Aschaffenburg. Du verwechselst mich anscheinend...“ Neben mir hustet die Hüterin meines Herzens, um nicht laut lachen zu müssen. „Oh…“, meine Beschmuserin wirkt sehr traurig, „…dann habe ich Sie anscheinend verwechselt…“, und in diesem Moment tut sie mir leid.
„Ich habe nur Spaß gemacht, natürlich bin ich Thomas, alles gut, ich wollte Dich nur auf den Arm nehmen, ehm…“ „Silke. Ich bin die Silke. Schade, dass Du Dich nicht erinnerst…“, sagt sie deprimiert, „wir hatten eine wirklich gute Zeit, wir beiden. Schade, dass Du Dich nie mehr gemeldet hast. Aber umso schöner, dass wir uns heute mal getroffen haben. Du hast Dich nicht verändert, weder äußerlich, noch anscheinend innerlich…“, konstatiert sie, „aber ich wünsche Euch beiden viel Glück und alles Gute!“ Dann dreht sie sich traurig um und geht.
Thomas ist aber auch echt ein Arschloch. Gewesen. Er war mein bester Freund und er ist seit 30 Jahren tot. Autounfall. Und Silke war seine Ex. Daher also…
Okay, Sie haben es ja nicht anders gewollt. Ab jetzt kriegen Sie lecker Newsletter von mir. Falls Sie das lieber doch nicht wollen - kurze Email genügt.
Verdammt. Irgendetwas ging schief. Daran ist nr die AfD schuld. Bitte nochmal probieren!